Notre Dame du Lac. "Unsere Dame vom See" lautet der volle Name der Kathedrale in Paris, die vor kurzer Zeit abbrannte. Eventuell kommt die Namensgebung aus dem Umkreis der Artussage, die von Nimue oder Viviane, der Lady of the Lake spricht. Was das mit Chandler zu tun hat? „The Lady in the Lake" lautet der Originaltitel des 1943 erschienenen vierten Philip-Marlowe-Romans aus seiner Feder.
Die Lady vom See im See
Der den Großstadtdschungel von Los Angeles gewohnte Marlowe bewegt sich in vorliegendem Roman auf eher ungewohntem Terrain, fernab der Stadt am Little Fawn Lake, einem kleinen Bergsee, soll er die Ehefrau, Crystal Kingsley, seines Auftraggebers suchen. Man ahnt schon, dass sie die Lady im See sein könnte, doch es wäre nicht Raymond Chandler, wenn er seine Leser nicht auf eine falsche Spur locken würde. Wie Rainer Moritz in seinem lesenswerten Nachwort schreibt handelt es ich bei dem vorliegenden "Fall" um einen "hidden identity case", denn die Identitäten der Akteure sind unklar und werden permanent ausgetauscht. Es geht vor allem um die Frauen im Roman, eigentlich aber nur um eine ganz bestimmte Frau. Denn was die präzisen, sexistischen Beschreibungen und durchwegs kühnen Adjektive betrifft, verteilt Chandler sie auf beide Geschlechter gleich großzügig: "Was sein gutes Aussehen anging, hatte der Schnappschuss nicht zu viel versprochen. Er hatte einen breiten Brustkasten und prächtige Schenkel. Seine Augen waren kastanienbraun. Das Weiß changierte ganz leicht ins Graue. (...) Ein saftige Stück Frischfleisch, wenn auch nicht mehr als das, in meinen Augen."
„So long, Schnüffler!"
Aber auch Chandlers Dialoge sind legendär, so bezeichnet einer seiner Zeugen ihn als Schnüffler und wünscht ihm „So long, Schnüffler!" Aber am Ende des Gesprächs ist Marlowe es, der dem verblüfften Verhörten ein charmantes „So long, Muskelprotz!" hinterherwirft. Viele Dinge werden von Chandler Marlowe als Understatement in den Mund gelegt und das macht den Eindruck einer durchwegs gelassenen Figur. Auch als zwei Polizisten ihn verprügeln, da sie ihn für den Mörder einer anderen Frau halten, bleibt Marlowe gekonnt in seiner Fassung. Am Ende dreht er seine Niederlage und Erniedrigung mit seiner scharfen und brillanten Intelligenz aber so um, dass die beiden Angreifer zu den Verlierern werden. Und das nicht nur moralisch. „Es gibt Männer, die sind so, und Frauen, die machen sie dazu." Als Schnüffler weiß Marlowe, dass alles schon einmal vorgekommen ist und alles möglich ist. Denn die Konturen der Schrift, die die Liebe hinterlässt, sind stets voller Überraschungen.
Raymond Chandler
Die Lady im See
Aus dem Amerikanischen von Robin Detje
2021, Hardcover Leinen, 336 Seiten
ISBN: 978-3-257-07171-9
€ (D) 22.00 / sFr 30.00* / € (A) 22.70
diogenes Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-11-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.