„Suche Arbeit, gleich welcher Art“ steht auf einem Schild, das ein junger Deutscher um seinen Hals trägt, der sich abseits der anderen Arbeitssuchenden unter eine Brücke gestellt hat. Die Perspektive der Kamera Bressons stellt ihn links in den Vordergrund und gibt die Sicht nach hinten rechts frei, wo die vielen anderen auf Arbeit warten. Ein Bild aus dem Jahre 1952, in Hamburg entstanden, das wohl auch heutzutage wieder öfter zu beobachten sein wird, nur der zornige Blick wird vielleicht fehlen, denn der Hoffnung auf Veränderung ist längst Resignation gewichen. Wie kein anderer Photojournalist hat Henri Cartier-Bresson die Ängste und Hoffnungen des vergangenen Jahrhunderts porträtiert, nicht nur Arbeitslosigkeit und Krieg, sondern auch die „neue UdSSR“ oder das „neue China“, die ebenso schnell wieder zu Enttäuschungen wurden, wie sie Glaube, Liebe und Hoffnung erweckt hatten.
„Der große Sprung nach vorn“, den Mao Tse-tung in „seinem“ China in den Fünfzigern angezettelt hatte wird von Henri Cartier-Bresson ebenso dokumentiert, wie die „Arbeit im Kapitalismus und Kommunismus“, der ein eigenes bildbiographisches Kapitel gewidmet ist. Demonstrationen verwahrloster russischer Kinder wechseln die stolzen, ganz in weiß gekleideten Fabrikarbeiter ab, die mit geschwellter Brust ihre Flaggen auf einer von oben angeordneten Manifestation zeigen. Tanzende Bauern in einer mit kommunistischem Propagandamaterial und Stalin-Bild ausgestatteten Fabrikskantine zeigen eine Sowjet, wie man sie wohl gerne gesehen hätte, wie sie aber wohl nur für diesen einen Moment auf dem Foto zu sehen ist. Bresson war der erste westliche Fotograph, der die Sowjet nach Stalins Tod betreten durfte und dort auch arbeiten durfte. Aber auch viele andere Orte sah der für „Life“ arbeitende Journalist bevor es andere sehen konnten. Neben dem kommunistischen China, das seinem Fotorealismus etwas nachhelfen wollte, war Bresson auch im Spanischen Bürgerkrieg an der Front, hier passiert dem Essayist Galassi ein kleiner Fehler, wenn er „La anarquia es la mas alta expresion del orden“, wie es auf dem Plakat heißt, versehentlich mit „(...) del hombre“ übernimmt und deswegen auch falsch übersetzt. „Anarchie ist der höchste Ausdruck der Ordnung“, so lautete die Losung von Eliseo Reclus.
Im Kontext dazu steht auch die Aussage von Bresson über den „Clou“ seiner Photographie: „Photographie ist für mich, im Sekundenbruchteil die Bedeutung einer Tatsache und die strenge Organisation der visuell wahrgenommenen Formen, die diese Tatasche ausdrücken, zu erkennen“. Henri Cartier-Bresson war seit jeher der „Meister des Moments“, seine Fotos sollten nicht komponiert sein, sondern zufällig entstehen und ein Bild der Wirklichkeit wiedergeben, ungestellt, unschön und spontan und meistens mit dem ganz gewissen Charme des Augenblicks. Zu einem ähnlichen Schluss kommt übrigens auch Galassi, wenn er ganz am Ende seines Essays wieder auf Reclus` „universelle Geographie“ zu sprechen kommt. Cartier-Bressons Werk sei nicht nur allein wegen der geographischen und kulturellen Spannweite bemerkenswert, sondern auch deshalb, weil es historich die gewaltigen Transformationen des Zeitalters der Moderne verzeichne, schreibt Galassi. Cartier-Bressons sei ein Leitstern, weil er uns kompromisslos und eloquent zu Engagement und Entdeckung auffordere, ganz so wie die eingangs erwähnte Aufschrift auf dem Schild des Arbeitslosen, also auch eine Aufforderung, sich auf das Ungewisse einzulassen.
In zwölf Werkkapiteln wird das 20. Jahrhundert des wohl bedeutendsten Fotografen vorgestellt und vom Ausstellungskurator Peter Galassi historisch und biographisch begleitet. Im Anhang findet man zudem eine Chronologie und die Landkarten der wichtigsten Reisen, die der Fotojournalist Cartier-Bresson unternommen hat. Eine wahre Entdeckungsreise also in das 20. Jahrhundert und das Werk eines seiner bedeutendesten Fotografen. Natürlich in gewohnter außergewöhnlicher Schirmer/Mosel Prachqualität.
Henri Cartier-Bresson
Sein 20. Jahrhundert
Mit einem Text von Peter Galassi