Carrère, Sohn eines Historikers und einer in Frankreich bekannten linksliberalen Publizistin, hatte bis 2009, als er sich an die Recherchearbeiten für seine Biografie machte, Eddie nur ein paar Mal von fern als Krawallbruder erlebt. Das Buch gelang ihm informationsgespickt, nüchtern, die vorsichtig distanzierte Zuneigung nicht bemäntelnd. Eigentlich ein Sachbuch, chronologischer Durchgang durch ein siebzigjähriges Leben, das einige Episoden immer auch „nachfühlt“, die der Biograf derart plastisch nicht wissen kann, dann eben „romanhaft“ wird. Man übersieht es anfangs, aber wirklich: Nirgendwo auf und im gesamten Buch findet sich die Genre-Zuschreibung. Es ist etwas zwischen Sachbuch und Roman.
Zum Verständnis der Figur Limonows, ab 1994 für ungefähr zehn Jahre Chef der Nationalbolschewistischen Partei Russlands („Ich bin nicht irgendein Spinner, ich habe eingetragene Mitglieder, 500 junge, starke Kerle“), muss man wissen, dass er ein Leben lang Bodybuilding und Yoga geübt hat, beides populäre Bestandteile der russischen Männlichkeitsfolklore. Limonow stammt aus einer Welt des Zuschlagens und Gehorchens, in der gebildete Fasler und schlaue Anpasser für feige Scheißer gehalten werden. Cool war, wer saufen konnte, vor dem die anderen Jungs Angst kriegten, der die Frauen beeindruckte. Hochachtung vor dem Schreiben von Gedichten gab es dort aber auch. Von Anfang an wollte Limonow, der als Rowdy gesessen hatte, der Halbstarke mit den Gedichten wie den Morden sein, ein ganzer Mann - im Gegensatz zum peinlichen Vater.
Für Carrère ist das eine Spiegelbildfigur zu Wladimir Putin, zu jener Geheimdienstratte, die aus dem Nichts des aufgelösten Sowjetimperiums zurückkehrte. Beide trauern ihr Leben lang der glorreichen Ära ihres jeweiligen Jugend-Sowjetreichs (nach Stalins Tod, Putin zirka zehn Jahre jünger) nach. Land der Tyrannei und des Mangels, in dem es Ehre, Anstand und persönlichen Mut gab. Limonow, der zur selben Zeit wie Jewtuschenko die Moskauer Damen mit Lyrik bezirzte und im selben Jahr wie Solschenizyn sein Land verlor, für immer, wie man seinerzeit meinte, hatte sich früh darauf kapriziert, ganz gewiss keiner von den westlich verhätschelten Samisdat-Kollaborateuren von Newsweek, Time und der CIA zu sein, sondern Literat des Volkes. Die Standhaftigkeit mit dem eigenen Arsch und Blut bezahlen, wenn es eben so sein soll.
Der Aufstieg verlief wenig glamourös, über ältere Frauen, Gangsterbräute, über seine Jeansnäherei in der Küche für Moskaus Jugend, in New York Korrektorjobs für verschrobene Emigrantenpostillen. Schließlich verlor er seine schöne Frau an die Drogensucht und an spendable Playboys. Die absolute Niederlage: Keiner kannte ihn, niemand würde ihn je noch kennen lernen, Respekt und Furcht fühlten sie vor ihm nicht. Er war in die größere Scheiße der Sozialbauten New Yorks geraten.
Dort, in den späten siebziger Jahren, machte Limonow jene Erfahrungen, die ihm Stoff zu mehreren Büchern lieferten, ihn als Asphaltliterat am Ende weltbekannt machten, noch heute Legende sind. (In Deutschland nicht mehr lieferbar, aber antiquarisch recht hochpreisig gehandelt.) Limonow entwickelte die bisexuelle Seite weiter, ließ sich beim Cruising ficken von athletischen Schwarzen im Sandkasten zwischen den Brownstones. Schließlich nistete er sich als Parasit ein bei einem künstlerisch dilettierenden Millionenerben und „Freund“. Er wurde dessen Butler, auch das im Roman nacherzählt.
Die Bücher „Fuck off, Amerika!“, „Diary of a Loser“, „Die Geschichte seines Dieners“, „Der kleine Dreckskerl“, wurden anfangs ausschließlich in russischen Emigrantenkreisen bemerkt, floppten also in Amerika, erlebten aber einen Sensationserfolg in Frankreich und Italien, was Limonow zum Umzug an die Seine motivierte (dem Biografen zuführte). „Fuck off“ verkaufte 1,5 Millionen Exemplare in Russland (nach der Wende selbstverständlich), was Limonow nur einige Hundert Dollar eingebracht haben soll, das sei doch Wildwest gewesen, in den Neunzigern, in Moskau.
Limonow hat seither immer weiter geschrieben, in den letzten Jahren jedoch kaum noch Bücher. Dabei verdiene man zu wenig. Nur noch Gedichte, jedoch vor allem ständige Kolumnen und Blogs. Gewiss ist Limonow ein guter Schriftsteller, wie jeder merken kann, der der sich eine der älteren deutschen Ausgaben verschafft. Wohl die größte Schwäche von Carrères Buch ist, dass es ihm nicht gelingt, Limonows außergewöhnliches Format als Gossenerzähler anschaulich zu machen. Was „Limonow“ stattdessen gibt, ist die Rekonstruktion eines politisch inkorrekten Abenteurer- und Aufschneiderlebens, des Hanteln schleudernden Intellektualkriegers im Flecktarn. Brille und blonder Kinnbart im straffen Gesicht, das sich weigert, zu dem eines Greises zu mutieren. Ein dandyhafter Freischärler-Literat, wie man ihn seit d’Annunzios Fiume-Beutezug (1919) für ausgestorben hielt.
Wegen seiner Prominenz luden serbische irreguläre Milizen Limonow während des Kriegs in Jugoslawien auf einen Besuch ein. Man wollte seinen Namen für die zweifelhafte Sache haben und tatsächlich stieg Limonow bei Völkermördern kurzzeitig gar als Offizier ein. Rechtzeitig und offenbar auch ziemlich erschreckt kam er dann noch weg, sodass ihm keine Kriegsverbrechen nachgewiesen werden können, wenn er auch beteuert, mehrere Menschen getötet zu haben.
Zitat:
Finden Sie es normal, als Journalist Waffen zu tragen?“, fragt ihn einer. Ein anderer beschimpfte ihn gleich als Dreckskerl. Der Russe hatte wohl nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet, doch er ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Ich könnte Sie abknallen“, sagte er und fuhr fort, während er auf die Tschetniks deutete: „Meine Freunde würde es stören, aber ich denke, sie würden mich decken. Lassen Sie mich Ihnen nur sagen, dass ich kein Journalist bin. Ich bin Soldat. Eine Gruppe von muslimischen Intellektuellen verfolgt hier grausam ihren Traum, einen muslimischen Staat zu errichten, und die Serben lehnen das ab. Ich bin ein Freund der Serben, und das stinkt Sie mit Ihrer Neutralität an, die nichts anderes ist als Feigheit.
Finden Sie es normal, als Journalist Waffen zu tragen?“, fragt ihn einer. Ein anderer beschimpfte ihn gleich als Dreckskerl. Der Russe hatte wohl nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet, doch er ließ sich nicht aus der Fassung bringen. „Ich könnte Sie abknallen“, sagte er und fuhr fort, während er auf die Tschetniks deutete: „Meine Freunde würde es stören, aber ich denke, sie würden mich decken. Lassen Sie mich Ihnen nur sagen, dass ich kein Journalist bin. Ich bin Soldat. Eine Gruppe von muslimischen Intellektuellen verfolgt hier grausam ihren Traum, einen muslimischen Staat zu errichten, und die Serben lehnen das ab. Ich bin ein Freund der Serben, und das stinkt Sie mit Ihrer Neutralität an, die nichts anderes ist als Feigheit.
Nunmehr naturalisierter Franzose, kehrte er zurück zu Mütterchen Russland. Tat sich mit einem philosophisch und literarisch gebildeten Faschisten zusammen, dessen mickrige Splitterpartei er zur Limonow-Partei umformte. (Rotes Tuch, weißer Kreis, kein Hakenkreuz, sondern Hammer und Sichel darin.) Den Nachstellungen durch Putins Staatspolizei entzog die Privatarmee sich ins Trainingslager im mittelasiatischen Altaigebiet. Sie übten den bewaffneten Aufstand, eine Stimmung wie im Landschulheim soll dort gewesen sein. Aber Putin macht keine halben Sachen. Man umzingelte die Truppe, inhaftierte sie als Terroristen, verurteilte sie zu langen Strafen. Limonow, der sich mit einer siebzehnjährigen Anhängerin eingelassen hatte, wäre mit Mitte siebzig rausgekommen. Das Mädchen schwor, sie werde warten. Ihren Platz besetzte Limonow dann aber mit einer prominenten Schauspielerin, diese sagte sich wieder los von ihm. Stoff für die Magazine.
Dann von oben die Rehabilitation als Neu-Dostojewski des Putin-Reiches. „Das Buch des Wassers“, eine Sammlung essayistischer Landschaftsbeschreibungen mit zahlreichen Verweisen auf die an Flüssen liegenden Straflager Russlands, wurde zum modernen Klassiker ausgerufen. (In Deutschland blieb das Buch unbekannt.) Zum Schluss hin ist Emmanuel Carrère ein wenig traurig: Trotz redlicher Anstrengung hat es Nero nie geschafft, die Welt in Flammen zu stecken. Man spürt Carrères Staunen und noch einen Rest von Skepsis, wenn er widergibt, mittels der Gefängnisjahre habe sein Protagonist geschafft, bei meditativer Versenkung einen kurzen Moment das Nirvana zu erblicken, was etwa in hundert Jahren nur einem Menschen gelingen könne. Den Moment, an dem alle Begierde nach Lust und Ruhm, alle Angst, aller Hass und selbst die Zeit aufhören zu sein und nur noch Freiheit ist.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-07-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.