Anfang November 1924: Ein 13jähriges Mädchen sitzt im Orient Express auf dem Treppchen des letzten Waggons und raucht. Ein junger Mann beobachtet die ein- und ausfahrenden Züge auf dem Züricher Hauptbahnhof und sieht sie, und vielleicht fällt der Blick eines Reisenden bei seiner Ausfahrt aus dem Bahnhof auf die beiden. Ein Zufall wäre es gewesen, denn alle drei sind einander in Zürich nie begegnet
Die drei Menschen, die der Schriftsteller Alex Capus in seinem neuen Roman nun abwechselnd auf ihrem Lebensweg begleitet, könnten unterschiedlicher nicht sein und sind doch alle drei Kinder des 20. Jahrhunderts. Gut recherchiert und voller Empathie spürt Capus den wechselnden Lebenslinien der drei Menschen nach und den ungewöhnlichen Wendungen, die ihr Leben, verursacht durch die zeitlichen Umstände und die Politik, nimmt.
Da ist der jüdische Student der Atomphysik Felix Bloch, der bei Heisenberg in Leipzig studiert, 1933 vor den Nazis flieht, an der Regimetreue seiner Lehrer und Studienkollegen(u.a. Weizsäcker) fast verzweifelt und schließlich zusammen mit Dutzenden von anderen namhaften Wissenschaftlern in Los Alamos beim Atombombenprojekt von Robert Oppenheimer mitarbeitet.
Die zweite in der Reihe der Protagonisten ist eben jenes Mädchen, das 1924 im Orient-Express auf dem Treppchen des letzten Waggons saß und sich ins Leben träumte. Laura d`Oriano, selbst Tochter einer Musikerin, versucht sich immer wieder als Sängerin, doch ihr Talent bleibt beschränkt. Sie heiratet einen lieben Mann, bringt zwei Töchter zur Welt und flieht doch bald vor der muffigen Enge des Schweizer Bodenseedorfs Bottighofen wieder nach Südfrankreich, wo sie sich mit wechselnden Engagements über Wasser hält. Bevor sie etwa 1940 vom Geheimdienst als Spionin angeheuert wird, weil sie gelernt hat, mit den Seeleuten aller Nationen schnell in Kontakt zu kommen. Auch mit den deutschen und italienischen Besatzungen, die von Südfrankreich aus in den Seekrieg in den Atlantik auslaufen. Sie wird später die einzige Frau sein, die je in Italien hingerichtet wurde.
Und da ist der Kunststudent Emile Gillieron, dessen Vater schon Heinrich Schliemann in Griechenland geholfen hat, mit beeindruckenden Fälschungen und Kopien dessen Weltruhm und Reichtum zu begründen. Er folgt seinem Vater und wird ein Meister der Fälschung, was später die Archäologen vor Probleme stellt. Capus weist darauf hin, dass heutige Restaurateure vor dem Dilemma stehen, sich in ihrer wissenschaftlichen Korrektheit zwischen den wenigen neolithischen Fragmenten und Gillierons Werk entscheiden müssen, das von der Kunst des Art déco der späten 20er Jahre inspiriert und mit Stahlbeton befestigt wurde.
Capus folgt, meisterhaft recherchiert, den Lebensläufen seiner drei Helden, die alle drei durch die politischen und gesellschaftliche Umstände gezwungen wurden, von ihren Träumen und Hoffnungen Abschied zu nehmen, etwas ganz Neues zu wagen und jeder für sich selbst in der offensichtlichen Niederlage doch zu gewinnen.
Mit literarischer Fantasie, mit einem faszinierenden Spiel mit Fakten und Fiktion setzt Alex Capus mit einer wunderbaren Sprache, der ich bald regelrecht verfallen war, ob ihrer Schönheit und Grazie, die wenigen durch Recherche zu ermittelnden Bruchstücke dreier Leben zusammen.
"Des Menschen Wissen ist immer lückenhaft, das ist unser Schicksal. Nur deshalb tragen wir letztlich Glaube, Liebe und Hoffnung in unseren Herzen – damit wir die Bruchstücke unseres Wissens in Beziehung zueinander bringen und daran glauben können, dass das alles hienieden einen Sinn hat."
Ein sprachliches Meisterwerk.
Alex Capus, Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer, DTV 2015, ISBN 978-3-423-14374-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-01-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.