„Immer wieder die Kutsche“, sagt auch Pierre an einer Stelle des Films und tatsächlich spielt auch in Belle de Jour eine Kutsche eine wichtige Rolle. Auch in diesem wohl bekanntesten und kommerziell erfolgreichsten Film von Luis Buñuel greift der spanische Regisseur auf eine Literaturvorlage zurück. Der gleichnamige Roman des französischen Schriftstellers Joseph Kessel spielt im Jahre 1928 und die „Schöne des Tages“ – so der Titel auf Deutsch – arbeitet auch dort nur tagsüber in einem Bordell, das von einer gewissen Madame Anais, im Film gespielt von Genèvieve Page, geleitet wird. Wobei „Bordell“ vielleicht etwas übertrieben ist, denn eigentlich arbeiten dort nur zwei weitere Prostituierte und es ist nur eine Wohnung und kein ganzes Haus. Aber in jener Zeit in Paris wohl ebenso anstößig wie heute ein einschlägiger Saunaclub. Eigentlich ist Séverine Sérizy (Catherine Deneuve) eine anständige Frau und zudem mit dem erfolgreichen Arzt Pierre Sérizy (Jean Sorel) verheiratet. Aber ihm gegenüber kann sie sich sexuell nicht öffnen, was wahrscheinlich auf eine Missbrauchsgeschichte in ihrer Kindheit zurückgeht, wie man in einer Rückblende erfährt.
Kultfilm der BDSM-Szene
Der Film beginnt – wie so oft bei Luis Buñuel - mit einer Traumsequenz, in der Séverine in einem roten Kleid in einer Kutsche in den Wald fährt und dort von den beiden Kutschern und ihrem Mann Pierre ausgepeitscht wird. Rotkäppchen im Wald ist eine Assoziation, die einem da in den Sinn kommt, wenn man nicht wüsste, dass Buñuel den Wald liebt und ihn immer wieder in seine Filme einbaut. Auch die Kutsche ist für ihn ein beliebtes Sujet, geleitet sie durch ihre Klingeln doch in eine vorindustrialisierte Welt in der es noch Träume gab, die keinen oder doch viel weniger Lärm machten als dies heute der Fall ist. Die zärtliche wenn auch nicht zaghafte Hommage von Luis Buñuel an die Welt des BDSM und der Nekrophilia, Bondage und Demütigung, hat heute, 50 Jahre nach Erstausstrahlung des Films, Kultcharakter, damals war es natürlich skandalös und von Zensur bedroht. Hier sei nur an die Szene mit dem Grafen und seiner Katze Belle de l’Ombre erinnert, bei dem Séverine zu Besuch ist und nackt im durchsichtigen Schleier eine Tote in einem Sarg spielen muss. Auch in einem Frühwerk von ihm „Le Journal d’une femme de chambre“ (1964) gibt es eine solche Anspielung. In Belle de Jour wird es aber nicht nur durch die Träume Séverines ausgedrückt, sondern auch in der Person des Marcel (Pierre Clémenti), der auch in dem Film „Die Milchstraße“ (1969) von Luis Buñuel als Teufel mitspielte. Das schlechte Gewissen in Person spielt in Belle de Jour Henri Husson (Michel Piccoli), ein Freund von Pierre, der - selbst ein Lebemann und Zyniker – gerne Bordelle besucht und so auch auf Séverine trifft.
Kutschenfahrt in die Träume
Belle de Jour ist sicherlich ein Film, dessen Details zu betrachten, auch bei mehrmaliger Sichtung nie langweilig wird. Etwa wenn die beiden bürgerlichen Freundinnen über das Haus in der Rue de Jamour 11 sprechen und der Taxifahrer bei Rot über die Ampel fährt als er über die Frauen dort ins Reden kommt. Natürlich will Buñuel die bürgerliche Scheinmoral und Ambivalenz anklagen, in der Kindesmissbrauch und verklemmte Sexualmoral auf der Tagesordnung stehen, denn nicht Séverine ist die Perverse, sondern die Situation in die sie als Frau hineingeboren wurde. Belle de Jour gilt deswegen auch als Kultfilm der Frauenbewegung, da er die Selbstermächtigung einer Frau zeigt, die ihren Weg der Befreiung geht, wenn auch ihr Ehemann dann die Kosten dafür tragen muss. Denn zur gleichen Zeit wie sie ihre Arbeit im Etablissement aufnimmt, kommt sie ihrem Mann immer näher und denkt sich beim gemeinsamen Strandurlaub „Ich habe mich dir noch nie so nahe gefühlt“. Und am Ende ist das Klingeln der Kutsche wieder zu hören und Phantasie und Realität drehen sich einfach um.
In einer aufwendigen 4K Restaurierung zeigt Studiocanal das Meisterwerk von Luis Buñuel und besticht zudem mit einem hochwertigen Booklet und umfangreichem Bonusmaterial. Belle de Jour – Schöne des Tages (1967) ist zu seinem 50-jährigen Jubiläum sowohl als einzelner Film (DVD/BluRay) als auch in der Studiocanal Luis Buñuel Edition (7 DVDs) erhältlich.
Luis Buñuel
Belle de Jour - Die Schöne des Tages / 50th Anniversary Edition
DVD Doppel, Drama, Erotik, F / I 1967, ca. 97 Minuten, FSK 16
Extras: Masterclass über Luis Buñuel mit Diego Buñuel und Jean-Claude Carrière, Audiokommentar von Prof. Peter W. Evans (Filmwissenschaftler), Interview mit Jean-Claude Carrière, „Das letzte Drehbuch – Erinnerungen an Luis Buñuel“, „Die Geschichte einer Perversion oder Emanzipation?“ – Interview mit einem Sextherapeuten, Booklet, Trailer
Mit. Catherine Deneuve, Michel Piccoli, Jean Sorel
EAN 4006680085753
Studiocanal
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2017-12-14)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.