Die Erzählstruktur dieses Bunuel-Films ist einfach erklärt: jedes Zimmer einer Pension birgt eine eigene Geschichte. Eine Frau, die zu ihrem kranken Vater muss begegnet in einer Pension vier Mönchen, die zuerst auf ihr Zimmer kommen, um für den Kranken zu beten und dann mit ihr rauchen, Whisky trinken und Karten spielen. In einem anderen Zimmer kommen ein junger Mann und seine um 20 Jahre ältere Tante unter, im dritten Zimmer will ein mittelalterlicher Geschäftsmann mit seiner Frau den Zufall der Begegnung feiern und lädt alle Gäste zu sich ins Zimmer ein, wo seine Frau damit beginnt, ihm den nackten Hintern mit einer Lederpeitsche zu versohlen. Natürlich ist auch sie ganz in Leder gekleidet und genau dieses Bild ist wohl auch die bekannteste Episode aus diesem humoristischen Film Louis Bunuels, der 1974 entstand und damals einen veritablen Skandal auslöste.
Gesetze ohne Moral
Aber es gibt auch noch viele andere Szenen in „Das Gespenst der Freiheit“, die skandalös sind. In einer Polizeischule geht es zu wie in einer Schule für Kinder, da machen die Kadetten, die schon über 30 Jahre alt sind, Scherenschnitte und Schabernack mit dem Lehrer, bis der Polizeioberst persönlich kommen muss: aber es sind nur mehr zwei „Schüler“ da, die anderen haben sich alle schon aus dem Staub gemacht. Aber endlich kann der Lehrer seine Ausführungen über Moral, Sitten und Gesetze in Ruhe beenden. Bei einem Abendessen einer feinen Gesellschaft setzen sich die Gäste zu Tisch auf eine Toilettenschüssel und man darf bei Tisch nicht über Nahrung zu sprechen, diese muss auf einem eigens eingerichteten Raum mit Lastenlift alleine zu sich genommen werden. Dafür sprechen sie über Richard Wagners „Tristan und Isolde“ oder lesen Zeitung. In einer anderen Episode wird einem Mann Leberkrebs diagnostiziert, aber der Patient schlägt dem Mann ins Gesicht. Bei seiner Rückkehr nach Hause zu seiner Frau erzählt er ihr nichts davon, aber stattdessen wird die Tochter der beiden als vermisst gemeldet, obwohl sie doch anwesend ist. Aber niemand nimmt das Kind ernst.
Rhapsodie von Brahms
Am skandalösesten ist wohl der Prozess des epischen Mörders: dieser hat von einem Hochhaus herunter willkürlich Menschen erschossen und wird trotz Schuldspruchs freigelassen. Eine Frau spielt nackt die Rhapsodie von Brahms am Klavier, ihr Bruder hat akute Miserere und ein Polizeipräfekt stemmt den Sarg seiner Schwester am Friedhof auf. Viele weitere skurrile Einfälle zeichnen diesen surrealistischen Klassiker von Louis Bunuel aus. Auch ein Fuchs und eine Flamencotänzerin mit ihrem Gitarristen spielen wieder eine Rolle. Absurder, schwarzer Humor der auch heute noch zum Nachdenken anregt.
Die Filme des spanischen Regisseurs der vor der Flucht vor Franco nach Mexiko auswanderte werden von Studiocanal 2017 neu als DVD und BluRay herausgegeben. Sie können sowohl einzeln als auch in einer eigens hergestellten Louis Bunuel Edition (mit sieben seiner bekanntesten Filme und acht Stunden Bonusmaterial) erstanden werden. Andere Filme von Bunuel gibt es auch in der Reihe „Arthouse Close-Up“ als 3er-Schuber.
Louis Bunuel
Das Gespenst der Freiheit
Originaltitel: Le Fantome de la Liberte (Komödie, Frankreich / Italien 1974), ca. 100 Minuten
FSK 12, DVD,
EXTRAS: Dokumentation „Das Feiern des Zufalls“; Fotogalerie; Trailer; Wendecover
Mit: Michel Piccoli (Das große Fressen, Le Mépris – Die Verachtung), Monica Vitti (Die rote Wüste, Liebe 1962), Jean Rochefort (Mr. Bean macht Ferien, Das Schloss meiner Mutter)
Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono DD)
Untertitel: Deutsch
EAN 4006680052281
Studiocanal
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2017-12-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.