Ihre kleinen Bücher „Ein Tag mit Jules“ und „Eine Reise mit Alice“ haben mich vor Jahren begeistert und bewegt. Als ich das neue Buch von Diane Broeckhoven in die Hand nahm, erinnerte ich mich vor allem an den lyrischen Schluss der „Reise mit Alice“, einem wunderbaren, sensiblen und zarten Buch über das Alter und seine Würde. Eine Hommage war das an die Liebe, die den Tod übersteht und mit hinübergeht über die Grenze, von wo noch keiner berichten konnte:
"Verdunsten will ich.
Verwässern.
Wie neblige Tropfen Fieberschweiß
Herabfallen auf meinen Rücken.
Flüssig werden
und in der gläsernen Wasserpfütze
meine Seele sich widerspiegeln sehen.
Eine Frau in Weiß,
die Linda heißt
und manchmal auch Lena,
legt mir ein Handtuch
um die Schultern
und hüllt mich ein.
Ihre Hand kreist
Zwischen meinen Flügeln,
Sie summt Worte in mein Haar.
Ihr Atem breitet sich aus
Unter meiner viel zu weiten Haut.
Weg will ich
Weit weg.
Auf die Reise.
Wo ist die Welt geblieben?
Wo ist die Grenze?"
Ihr neues Buch „Kreuzweg“ hat mich nicht enttäuscht. Mit einer poetischen Sprache, die noch dichter, noch reifer, noch spiritueller geworden ist, beschreibt sie in fünfzehn Stationen das Leben der Ich-Erzählerin, die namenlos bleibt.
Diane Broeckhoven wählt für die einzelnen Lebensabschnitte, die die Frau rückblickend reflektiert, das biblische Bild des Kreuzwegs Christi und zeigt damit ihre Interpretation jenes Geschehens am Kreuz, die der Rezensent als Pfarrer über Jahrzehnte gepredigt hat, gegen alle feministischen Vorbehalte: Im Leiden Christi und in seinem Tod am Kreuz hat Gott, nachdem er in der Krippe Mensch geworden war, auch das Elend, das Leid, das Elend, den Schmerz, die Verzweiflung, das Sterben und den Tod der Menschen geteilt.
Die namenlose Erzählerin führt den von der ersten bis zur letzten Seite nicht nur gebannten, sondern in der Tiefe seiner Seele und seines Herzens getroffenen Leser zurück in die dramatischen Geschehnisse ihrer Kindheit und Jugend, die sich, wie sich herausstellen wird, über ihr ganzes Leben wie ein Schatten gelegt haben. Sie hat Träume, wie alle Mädchen, möchte studieren, ein normales Leben führen. Doch irgendwann verunglückt die Mutter tödlich. Sie bleibt allein mit dem Vater zurück. Vielleicht spürt sie das Übergriffige, was vom Vater ausgeht; sie hält ihre Tür immer verschlossen. Doch eines Tages ignoriert der Vater das Schloss und betritt das Zimmer….
Die Frau versucht zu vergessen, was das geschehen ist, was ihre Seele getötet hat. Sie schützt sich vor ihrer Erinnerung. Doch schon früh ahnt der sensible Leser, dass ihr das auf Dauer nicht gelingen wird. Und so treibt Diane Broeckhoven die Berichte der Frau auf einen erschütternden Höhepunkt zu, der überraschend sein mag, den man aber schon lange geahnt hat.
Ein poetisches und literarisches Kleinod mit einer ganz subtilen theologischen Botschaft.
Diane Broeckhoven, Kreuzweg, C.H., Beck 2012, ISBN 978-3-406-63941-8
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-03)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.