In Das gewonnene Alphabet, dem im Oktober 2012 beim Pop Verlag in Ludwigsburg erschienenen Gedichtbuch, sucht Theo Breuer, so unerschrocken wie beredt, Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, auf allegorische Art und dichotomische Weise nach Spurenelementen dessen, was gemeinhin als ›Wahrhaftigkeit‹ in Leben / Streben / Poesie bezeichnet wird: so geht jeder / an sein geschäft. Dabei erweist er sich zum einen als poeta doctus, der alle ›un/möglichen‹ Einflüsse verwertet und weiterentwickelt, zum anderen verschreibt er sich dem Sichtbaren, den (bisweilen auch nackten) Fakten, den tausend und mehr ›Dingen‹, die wir ›Alltag‹, ›Existenz‹, ›Leben‹, ›ZeitGeist‹ nennen und denen er schreibend auf die Schliche kommen will: verdammich – jede antwort ist auch keine. Dabei spielt der Autor als Darsteller keine nach außen hin tragende Rolle – diese übernehmen antiheldische Protagonisten wie Bensch, Kraus, Peer Quer, denen sich, als antagonistische Amazone gleichsam, gelegentlich eine Mrs Columbo beigesellt –, er tritt nurmehr als nachgeordnetes Bewußtsein (von Erinnerung, enzyklopädischem Wissen) bzw. beschreibender Beobachter – scheibenspäher – in tunlichst hintergründige Erscheinung.
Wendeltreppe
Theo Breuer weiß, daß die Verwendung vertrauter Vorlagen keineswegs das Gelingen sichert. Er hat die Lyrik nie mit dem bloß Schönen verwechselt. Das ›Ästhetische‹ hängt in den von ihm gemachten Versen eng mit dem Außergewöhnlichen, Unerhörten, Unwahrscheinlichen zusammen. Schauder, Schock und Schrecken sind wiederkehrende (auf den ersten Blick unauffällige) Begleiterscheinungen, die im Kosmos der Gedichte als zwischen sterbendem Eros und werbendem Thanatos, melancholischem Froh- und satirischem Schwermut schwingende Bilder wahrnehmbar werden: der wurm ist nah hier hilft wohl bloß noch ducken. Gleichsam auf doppelbödiger Wendeltreppe steigt Breuer tief und tiefer in die stolperfelder der Sprache, entdeckt immer neue Einschiebungen und Muster im Innern der Muster. Flankiert von poetischen Zitaten und angereichert mit Allusionen / Echos / Einsprengseln, scheint es, als läsen wir hier Palimpseste, jede Seite vielfach beschrieben. Der Inhalt ist codiert, die Sprache ein dichter Brombeerverhau.
Nährboden
Entgegen immer wieder gern proklamierter Verlautbarungen ist das Lesen von Gedichten keineswegs eine bedrohte Kulturform. Im Dasein des Verfassers und zahlreicher ihm bekannter Zeitgenossen ist sie allgegenwärtig: ein Tag ohne Gedichte? Undenkbar. Breuer, von literarischen Texten aller Orte und Zeiten beflügelter Ikarus, schreibt nicht nur präzise Poesie in vielerlei Idiomen (in denen beispielsweise dialektale oder englische Versatzstücken auftauchen): Er denkt über das suchstäbliche Schreiben von A bis Z hinaus, vertraut sondersamen Zeichen, die Tastatur und Bildschirm möglich machen, kombiniert, montiert, verquickt, läßt auf diese Art die eigene Sprache – lakonisch, parodistisch, übermütig – ›ertönen‹, bildhaft werden, die aus dem seit rund dreitausend Jahren rund um den blauen Planeten bestellten Nährboden aufsteigt: Wenn Theo Breuer Gedichte schreibt, dann schwingt die Geschichte der Lyrik mit (Christoph Leisten). Als selbstbewußter Leser begreift Breuer das Lesen von Literatur als (anhaltende) Affäre, als Erlebnis, als De- und Rekonstruktion der vom jeweiligen Buch vermittelten Eigenwelt. Das bedachte Vertrauen in diese Eigenwelt versteht er als selbst produzierten Vorschuß. Der unbedingte Glaube ans Ästhetische, an die Literatur und die Schönheit des Denkens macht Theo Breuer zu einem Intellektuellen, der dieses Wortes würdig ist.
Fragile Fragmente
Akribisch buchstabiert Breuer Das gewonnene Alphabet von A nach Z, von ausgekopft bis zypressenwolfsmilch. Oft holt er die Gegenstände ganz nah heran, beobachtet sie gleichsam unter dem Mikroskop der Sprache, die er als Präzisionsinstrument zum Einsatz bringt, so etwa die eine / blankgelbe ∙ blendend feine ∙ kleine mirabelle. Als listenreicher Chronist führt er, gewissenhaft und unterschiedslos, im Glossar sämtliche in den Gedichten verwendete Wörter auf. Bei aller stupender Gelehrsamkeit fühle ich mich nirgends geschulmeistert oder bevormundet, finde (statt ›closure‹) offene Fläche / Freiraum für Assoziation und Zugabe. Aussage, Botschaft und Einfall hin, Gedanke und Idee her, auch in den beispielsweise politisch grundierten Gedichten stehen Sound und Wirkung des Wortes ›an sich‹ genauso im Vordergrund wie in den Sonetten, Centos, parlandonahen Versen oder teodadaistisch angeschmauchten Sequenzen: Mais Degas ce n’est pas avec des idées qu’on fait des vers c’est avec des mots (Stéphane Mallarmé). Dabei ist Breuer alles andere als ein lyrischer Reinheitsapostel, jedes Wort ist grundsätzlich fürs Gedicht zu gebrauchen, wird auf die Goldwaage gelegt, geschüttelt, auf Reimheitsgrad überprüft, poliert, paragrammiert, aus ›mausetot‹ wird lausetot.
Die Vielfalt der Formen und Schreibweisen, Stoffe und Themen lassen nahezu jedes Gedicht in gleichsam ›eigenwilliger‹ Art daherkommen: Was also liegt näher als die Schlußfolgerung, daß das Gedicht bestimmt, wo’s langgeht und welche Form es annimmt (und nicht der Autor, dessen unterschiedlichste Erfahrungen als hinsehender, mitfühlender, zuhörender Zeitgenosse gleichwohl in diesem so eigenen Ton durch die frei- oder festmetrischen Verse pulsieren). Theo Breuer bleibt auch bei schwerem Wetter der durch den Freiluftring tänzelnde Wortskerl, dessen 89 Gedichte mit abschließendem Glossar und Essay im vielfach variierten, konzeptuell angelegten gewonnenen Alphabet – abenteuerdurstig, filigran, symbolprächtig, visuell, wortschröpfend, zahlenspielerisch, in feine Ironie eingewoben – ein tiefgängiges Lesevergnügen der besonderen Art sind.
Matthias Hagedorn
Theo Breuer, Das gewonnene Alphabet, 89 Gedichte von A bis Z ∙ Glossar ∙ Essay, 121 Seiten, Pop-Verlag, Ludwigsburg 2012.
[*] Diese Rezension schrieb: Matthias-Hagedorn@gmx.de (2012-10-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.