Das Romanwerk des Amerikaners T. Coraghessan Boyle schwillt unablässig an und seit seinen Welterfolgen Wassermusik und World´s End wird immer wieder die Frage gestellt, ob es noch Steigerungen geben kann. Meistens wird die Frage negativ beantwortet und somit entgeht Boyle nicht dem Schicksal derer, die große Erfolge aufzuweisen haben. Neben der erzählerischen Qualität des Schriftstellers, die nicht in Frage gestellt werden kann, ist es meist die Themenstellung, die zuweilen Unmut auslöst, denn nach dem Epos auf das Kolonialzeitalter in Wassermusik und der Asynchronität und Vielschichtigkeit der amerikanischen Siedlergeschichte erscheint doch so manches profan. Im Tortilla Curtain war es wenigstens noch die Immigrationspolitik, aber im Samurai von Savannah oder in der Erzählung über den Geschäftsmann Kellog, der die anthroposophische Idee zum Abzocken entdeckte, wirkte eben schon manches profan, obwohl Profanität an sich durchaus subtile Deutungsmöglichkeiten zulässt. Zumindest in der Rezeption seines 2006 erschienen Romans Talk Talk wird ihm der Vorwurf der Verflachung häufig gemacht. Völlig zu Unrecht.
Die Geschichte selbst ist skurril, für sich betrachtet aber nicht der große Wurf. Eine junge Frau, die an der Taubheit leidet, wird beim Überfahren einer roten Ampel nahe Los Angeles angehalten und von der Polizei nach Abfrage ihrer Personalien eingebuchtet, weil sie in mehreren Bundesstaaten wegen schweren Betrugs gesucht wird. Es stellt sich heraus, dass eine andere Person mit den technischen Möglichkeiten des Internets ihre Identität gestohlen hat und unter dieser hemmungslos einkauft. Während die junge Frau ihren Job wegen der Vorkommnisse verliert und ihr Freund sich mit ihr zusammenschließt, um den Übeltäter zu finden, wird letzterer als ein in Wohlstand lebender junger Mann vorgestellt, der auf die schiefe Bahn gekommen ist und seit seinem Gefängnisaufenthalt sich mit den dort erworbenen Techniken der Identitätsfälschung vom Leben holt, was er auf redliche Weise nicht vermocht hat. Es beginnt ein Showdown der Jagd auf ihn, der darin endet, dass die junge Frau und ihr Freund ihn letztlich an der Ostküste stellen, die Frau ihn aber im entscheidenden Moment entwischen lässt, weil er alles Materielle verloren hat und sie ihre Angst vor ihm. Das entzweit das Paar, der Delinquent entschwindet im Nirgendwo, die Frau bleibt an der Ostküste und ihr Freund geht zurück nach Kalifornien.
Was als eine Allerweltsgeschichte unserer Tage erscheint, ist jedoch das Jonglieren mit zwei großen Metaphern des Kommunikations- und Informationszeitalters. Es geht in diesem Buch um die Täuschung, den Schein und die Unfähigkeit, zuzuhören. Das, was als vorhandene Psychostruktur einer gemeinsamen Intentionalität als Grundlage gelungener Kommunikation angesehen werden muss, geht in dem Orkan der Aufmerksamkeitsappelle immer mehr verloren und führt zu einer disparaten, traurigen Entwicklung einzelner Biographien, bei denen eine Sinnstiftung zunehmend unmöglich wird. Boyles Buch ist auf der psychologischen Ebene subtil, als Kulturkritik ist es phänomenal.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-04-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.