In der Reihe „Die Metropolen & ihre Belle Epoque“ sind beim Christian Brandstätter Verlag bereits „Wien 1900“ und „Berlin in den 20ern“ erschienen. Die Reihe zeichnet sich durch mit Sachkenntnis geschriebene Texte aus, die durch eine Vielzahl an Bildmaterial illustriert werden. Darunter befinden sich nicht nur zeitgenössische Fotos und Bilder, sondern auch Propagandaplakate oder Werbekollorationen u. ä. Die Reihe widmet sich der jeweiligen Stadt und Epoche in ihrer gesamten Bandbreite, die Beiträge reichen von Architektur über Malerei, Design, Buchkunst, Literatur bis hin zu Musik, Tanz, Theater und Cabaret, sowie Reklame und Fotografie.
Das „Silberne Zeitalter“ wird jene Epoche genannt, der sich vorliegendes Panoptikum der Moskauer und Petrograder vorrevolutionären Jahre widmet, wohl auch deswegen, weil es zu keiner goldenen Ära mehr kommen sollte. Ab 1917, dem Jahr der Oktoberrevolution, wurden die avantgardistischen und progressiven Kunstströmungen dem sozialistischen Realismus untergeordnet und die Blütezeit und Aufbruchstimmung der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts teilweise gewaltsam beendet. Das Bezeichnung „Silbernes Zeitalter“ meinte eher die Jahre von 1890 bis 1910, also das, was in unseren Breitengraden gemeinhin „Jahrhundertwende“ genannt wird. Gleich auf den ersten beiden Seiten dürfte dem Leser klar sein, was damit gemeint ist, man sieht auf der einen Seite das Bild eines abstrakten weiblichen Torso von Kasimir Malewitsch und auf der anderen das Gemälde „Tod“ von Nikolai Kalmakow. Dieses Gemälde soll jahrelang im Elternhaus des Schriftstellers Vladimir Nabokov gehängt haben und wer sich darin vertieft, wird – wie es der Zufall will - auch das Motiv seines Jahre später, 1955, entstandenen und wohl erfolgreichsten Romans, „Lolita“, erkennen: ein alternder auf den Knien liegender Mann vor dem eine orientalisch-ornamentale Tänzerin ihren Hüften Flügeln verleiht, womöglich noch im Takt zu den Dissonanzen, Synkopen und rasch wechselnden Tempi eines Igor Strawinsky. Die Spannung in der sich der Plot vorliegender russischer Kunstgeschichte entfaltet ist also schon mit diesen beiden Werken vorweggenommen, sowohl in literarischer als auch malerischer Hinsicht: die Moderne im Abstrakten und der Tod des Künstlers durch die Frau.
„Dieses Buch“, schreibt Bowlt konzentriere sich nicht auf „die Kunst der Avantgarde, sondern auf die Erscheinungen, Eigenschaften und Entwicklungen, die dem Kubofuturismus, dem Suprematismus und dem Konstruktivismus vorangingen und die das Silberne Zeitalter zu einem erkennbaren, greifbaren Gebilde machten“. Der russische, zaristische „doppelköpfige Adler“ beherbergte eine Vielzahl dieser modernen Strömungen, nicht nur in der Malerei, sondern auch in anderen Kunstrichtungen. Das hing nicht ausschließlich von der schier immensen Ausdehnung des Landes ab, das viele verschiedene Kulturen und Völker bewohnten, sondern vor allem vom Bau der Eisenbahn, die um 1900 endlich das verband, was vorher nur mühsam zu erreichen war: 1840 gab es gerade Mal 25 Kilometer Schienennetz, 1900 bereits 380.000 Kilometer. Die Bevölkerung zählte 174 Millionen Menschen und auch wenn die meisten davon arm waren und Kartoffeln aßen und nur etwa zehn Prozent zum Adel gehörten, entfaltete sich eine enorme Schubkraft, die gerade aufgrund der vielen Widersprüche des Landes eine großartige Kultur hervorbrachte, von der man sich in vorliegender illustrierter Kunstgeschichte überzeugen kann.
John E Bowlt zeigt dieses Land, vorrangig die beiden Städte, aber auch in zeitgenössischen S/W Fotografien, die wirklich zu beeindrucken wissen. So etwa ein Foto eines Kostümballes zur 200 Jahr Feier der Stadt St. Petersburg, 1903, im Winterpalais. Nur ein Jahr später tanzte eine barfüßige Isadora Duncan und ihre „Isidorables“ mit ihrem Danses Plastiques über die Bretter des Adelssaales des Winterpalais und hinterließ echauffierte, atemlose Ausdrücke in den Gesichtern der zaristischen Elite. Mit dem Autor zusammen entdecken wir zwei moderne, prosperierende Städte, mit U-Bahnen (Moskau) oder Straßenbahnen (St.Petersburg), Kunstausstellungen oder gesellschaftlichen Trauer- und Freudenmärschen. Die Revolution von 1905 machte erstmals augenscheinlich, dass die ökonomische und gesellschaftliche Entwicklungsschere diametral auseinander lief und, dass Russlands Verwaltung eine autokratische, veraltete Struktur hatte. Der Blutsonntag sollte ein Fanal sein, das nicht nur in der Kunstgeschichte Spuren hinterließ. Auch Lenin hatte ihn als „Generalprobe für 1917“ bezeichnet und bald sieht man auf einer alten Fotografie den Zaren Nikolaus II. Schnee schaufeln, datiert mit 1918, denn zuvor hätte er wohl niemals ein Handwerkszeug in die Hand genommen. Auf die Umerziehung folgte trotzdem die Hinrichtung, worüber Russland übrigens noch heute trauert.
Auch die anderen Kapitel sind reich bebildert, so zeigt etwa der Artikel „Himmelblaue Höhen, saphirne Tiefen“ zu den philosophischen Konzepten des Silbernen Zeitalters eine Reproduktion von Nikolai Kalmakows „Zwei Frauen mit Hirsch“. Das Ölgemälde ist von einem seltenen Glanz einer wohl mondklaren Nacht und zeigt die beiden nackten Schönheiten vor einem Schloss in einem verwunschenen Walde tanzend. Das Bild aus dem Jahre 1925 wirkt so modern, als wäre es aus der Feder eines Bilal, unglaublich schräg und verrückt die Farbwahl, mit einer kobaltblauen Sternennacht über den rothaarigen Köpfen und saphirnem Rasen unter den barfüßigen Sohlen der rothaarigen Prinzessinnen, deren Häupter - wie das des stolzen Hirsches - ebenfalls von Hörnern geschmückt werden: den Hörnern einer goldenen Krone. Gerne würde man wissen, wo das Original zu sehen wäre, diese Information fehlt leider bei dieser sowie anderen Bildinformationen.
Das hier vorliegende „Panoptikum der Sinne“ entführt den Betrachter in das Silberne Zeitalter, das in seiner ganzen Bandbreite präsentiert wird. So werden auch Kleinodien in Fotografien präsentiert und sogar das Interieur der Epoche wird vorgestellt. Ein eigenes Kapitel widmet sich dem Djagilew-Kreis, der Zeitschrift „Mir iskusstwa“ (Welt der Kunst) und ihren Anhängern und Vertretern. „Wir sind Zeugen eines großen historischen Moments“, heißt es in dem Pamphlet „Stunde der Abrechnung“ von Sergej Djagilew, „des Abrechnens und Beendigens im Namen einer neuen unbekannten Kultur“. Diese „neue Kultur“ sollte erst noch geboren werden und ob am Ende die „Ästheten oder Barbaren“ (Kapiteltitel) siegten, lässt sich wohl nicht mit eindeutiger Sicherheit sagen. Eigentlich sollte die Geschichte hier aufhören, denn es beginnt der Große Krieg, der eigentlich alles grundlegend veränderte, doch Bowlt wagt den Sprung auch darüber hinaus und schreibt abschließend in seinem Epilog, dass das Silberne Zeitalter den Samen von Theorien, Praktiken, Verhaltensweisen, Ritualen getragen habe, die sich leicht mit der Kultur unserer Zeit in Verbindung bringen ließen. Das russische Silberne Zeitalter wird also doch noch von einem russischen Goldenen gefolgt werden, man mag es zumindest hoffen.
John E. Bowlt ist Professor am Institut für Slawische Sprachen und Literatur an der University of Southern California in Los Angeles. Seine zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigen sich besonders mit russischer Kunstgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert.
John E Bowlt
Moskau & St. Petersburg
Kunst, Leben & Kultur in Russland 1900-1920
Aus dem Englischen von Aurelia Batlogg
2008
Christian Brandstätter Verlag www.cbv.at
400 Seiten 650 Farbabbildungen
Format 24 x 16,5
ISBN: 978-3-85033-208-8
49,90.-
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2009-01-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.