„L`Age d`or“ ist nicht nur das Synonym dieser Pariser Epoche, in der der Krieg beendet schien und die Welthauptstadt der Kultur in Siegestaumel schwelgte, sondern auch der Titel eines Films von Luis Bunuel und Salvador Dali, der 1930 entstanden war. Anhand dieser beiden Künstler könnte man das Ergebnis der „années folles“, wie die Zwanziger gerne genannt werden, ausgiebig diskutieren: der Regisseur ging ins Exil nach Mexiko, der andere, der Maler, blieb zu Hause und machte auf unpolitisch. Muss denn auf jedes Fest, jede Orgie, jeden Taumel ein so grausamer Kater, eine so brutale Ernüchterung folgen, wie es der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus dann waren? Die zwanzige Jahre von 1919 bis 1939 gehörten sicherlich zu aufregendsten des 20. Jahrhunderts, auch wenn es spätestens mit dem Börsenkrach von 1929 erste Risse gab, die die Grenzen des Wachstums und Glücks vorwegnahmen. Nach der Premiere des Films, „L`Age d`or“, am 3. Dezember 1930, wurde das Studio 28 in Paris übrigens von rechtsextremen Gruppen verwüstet und die Bilder von Miro, Ernst und Dali in der Eingangshalle des Kinos zerstört. Das Unheil bahnte sich also bereits weit früher seinen Weg, als man gewillt ist einzusehen. Gewalt prägte den Alltag im Paris der 20er und 30er ebenso, wie in anderen Städten Europas.
Aber vorerst weht ein neuer Wind durch die Stadt und auch durch Europa, literarische Bewegungen wie der Dadaismus, die sich noch mit dem Schrecken und den Folgen des Krieges auf die Kultur auseinandersetzen, weichen bald den fröhlicheren Zirkeln der Surrealisten, die sich die „permanente Revolution“ zumindest in den Köpfen zum Ziel gesetzt hatten. Das „Manifest des Surrealismus“ kritisiert nicht nur den engstirnigen Rationalismus, sondern auch den Realismus. „La Revolution surrealiste“, die Zeitschrift der Gruppe um Andre Breton, veröffentlicht Traumberichte genauso wie Gedichte oder Zeugnisse, das „Wunderbare“ soll dem Alltag weichen. Wie es u. a. auch Antonin Artaud für das Theater fordert, das er zu einem Raum machen will, in dem sich der metaphysische Sinn des Lebens offenbart, fordern es andere auch für das Leben außerhalb der Bühne. „Ein wirkliches Theaterstück stört die Ruhe der Sinne auf, setzt das komprimierte Unterbewusste frei, treibt zu einer Art virtuellen Revolte…“. Viel mehr als „virtuell“ war die „Revolution“ der Surrealisten allerdings tatsächlich nicht, denn ihr Leserkreis beschränkte sich auf eine sehr sehr marginale Randgruppe der Bourgeoisie aus der sie selbst entstammten. Die Autoren Bouvet/Durozoi stimmen darin überein, dass die Zwischenkriegszeit vor allem ein Goldenes Zeitalter für den Roman gewesen sei, auch was die Menge betreffe.
Aber nicht nur das intellektuelle Leben war reich an Neuerungen und „Revolutionen“, sondern auch das der Architektur und der bildenden Kunst. Paris hatte nämlich schon 1926 eine eigene, ganz schön imposante Moschee, gestaltet von Fournez und Mantout. Kein Zurück zu den Experimenten der Vorkriegszeit scheint hingegen ein treibendes Motiv in der bildenden Kunst gewesen zu sein, wie Gerard Durozoi in seinem Beitrag über diese Kunst schreibt. Der Kubismus der Vorkriegszeit wird als „art boche“ oder „bolschewikische“ Kunst gebrandmarkt, ein „rappel a l`ordre“ sei allenthalben vonnöten. Picasso wird bald als „inkonsisten“, „geschickter Taschenspieler“, „eklatanter Bluffer“, „abartiger Alchemist, der immense Langeweile produziert“ oder sogar als „intellektueller Hanswurst“ beschimpft. „Olga pensive“, ein Werk Picassos von 1923 zeichnet allerdings ein ganz anderes Bild von Picasso, als seine Gegner gewollte gewesen wären ihm zuzugestehen. Die vollwertige Produktion des Pastellbildes, das heute im Musee Picasso hängt, in vorliegender Publikation ist übrigens so schön anzusehen, dass man bald selbst „pensive“ (nachdenklich) wird, wenn man auch selbst wohl kein so schönes Modell abgeben würde wie Olga.
„Paris 1919-1939 Kunst, Leben & Kultur“ steht in der guten Tradition der anderen Werke des Christian Brandstätter Verlages, die in derselben Reihe schon „München“, „Wien“ und „Berlin“ hervorgebracht hat. In Vorbereitung ist übrigens bereits „Swinging London“. Man darf auch auf diese Publikation schon gespannt sein, denn diese Reihe des Verlages gehört zu dem Besten was man in diesem Zusammenhang bekommen kann. Sowohl was die Ausstattung (Schutzumschlag, gebunden) als auch die hochwertige Verarbeitung des Papiers und die Reproduktionen von Fotos und Gemälden betrifft, sind diese Publikationen bei einem durchaus auch annehmbaren Preis immer noch unschlagbar. Übrigens: der Eiffelturm wurde auch schon 1925 bei Nacht bunt beleuchtet, wie eine Reproduktion einer Bildpostkarte der Exposition des arts decoratifs beweist. Noch dazu ganz schön exotisch, muss ich sagen!
Vincent Bouvet/Gérard Curozoi
Paris 1919-1939 Kunst, Leben & Kultur
Übersetzung aus dem Französischen von Monika Kalitzke
2010
Verlag Brandstätter www.cbv.at
ISBN: 978-3-85033-323-8
400 Seiten, ca.650 Abb., Format 16,5 x 24 cm, Hardcover
49,90.-
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-01-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.