Nach seiner vergleichenden Studie über Struktur und die neuralgischen Themen des Imperiums von Rom bis zum heutigen Westen widmete sich Ralph Bollmann mit seinem 2008 erschienenen Buch Reform. Ein deutscher Mythos vorwiegend der im deutschen Sprachraum in Angriff genommenen Reformen und deren Wirkung in der historischen Entwicklung. Er fasste damit ein Eisen an, dessen Temperatur in der deutschen Entwicklung durchweg sehr unterschiedlich empfunden wurde. Aus einer durchweg erlebten Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen wurde das Zauberwort stets mit sehr ambivalenten Erwartungen und Befürchtungen besetzt. Implizierten Reformen immer für einen Teil der Gesellschaft stereotype Ängste vor anstehenden Veränderungen, so projizierten andere wiederum in das Unterfangen der Neuordnung zu hohe Ansprüche, die es mythisierten und dadurch ihrerseits beschädigten.
Bollmann lässt deutsche Reformversuche seit dem 15. Jahrhundert bis heute Revue passieren, von den Konzilen der Römischen Kirche bis zu Schröders Reform der sozialen Systeme, von den Stein-Hardenbergschen Reformen zur Etablierung einer leistungsfähigen Verwaltung bis zu den verschiedenen, bis ins 21. Jahrhundert reichenden Reformen zur Deutschen Sprache und ihrer Rechtschreibung. Der von dem Autor überaus interessante Ansatz argumentiert entlang der jeweiligen Linie der zeitgenössischen wie später historischen Rezeption und entdeckt dabei Analogien, die interessanter kaum sein können. Das Projekt Reform in Deutschland wird über die Epochen hinweg als ein tückisches und antagonistisches Vorhaben im kollektiven Bewusstsein enttarnt.
In der typologischen Abfolge beginnt alles mit einem empfundenen Reformstau, d.h. einer von den jeweiligen Mehrheiten empfundenen Stillstand und einer unterlassenen Anpassung der Verhältnisse an die längst fortgeschrittene historische Entwicklung. Aus dem Reformstau entsteht die Krise, die ihrerseits beklagt und zelebriert wird, aber selten zu einer strategischen Perspektive führt, weil die Beharrungskräfte zumeist überwiegen. Irgendwann jedoch geht ein Ruck durch die Gesellschaft, nämlich dann, wenn einzelne Protagonisten oder Parteien Courage zeigen und mit der nötigen Macht wie einer entsprechenden Konzeption aufwarten, um die Verhältnisse zu verändern. Interessant dabei ist die Rezeption seitens der Mehrheit, die die Idee zumeist goutiert, sich allerdings ergießt in der Kritik an den handwerklichen Fehlern, die dann denen angelastet werden, die sich zu der Ausgestaltung der Reformen bereit erklärt haben. Neben den monierten handwerklichen Fehlern wird zudem ein ausgemachtes Vermittlungsproblem zu einem zentralen Thema. Beides überstrahlt in der Regel die positiven Wirkungen der Reform, die zumeist als gescheitert angesehen wird. Erst viele Jahre oder Dekaden später werden Reformen in Deutschland positiv gewürdigt, zumeist von denen, die sich ihrerseits einem neuen Reformstau gegenüber sehen.
Das kommt einem alles sehr vertraut vor, bis hin zu der Zeitleiste hinsichtlich der Akzeptanzphasen von maximal 2- ½ Jahren, die Bollmann bei allen untersuchten Beispielen identifiziert. Ein Muss für alle, die sich jemals an das heikle Thema wagen wollen.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-03-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.