„Angeblich ist der Typ schon über fuffzig“, murmelten die Fans verschwörerisch hinter vorgehaltener Hand über den mittelalterlich anmutenden Minnesänger. Die Rede war natürlich vom Leadsinger und Oberflötisten Ian Anderson, der Ende der Sechziger die Führung in der englischen Band Jethro Tull übernommen hatte. Damals war er aber gerade erst zarte 21 Jahre alt. Jedoch hatte sich seine Band für das Cover von „This Was“ als alte Männer inszeniert, inklusive Krückstock. Das Image blieb. Denn Jethro Tull treten auch nach 50 Jahren immer noch auf. Auch auf einem Bein stehend.
Statt „Koks und Sex...
Jethro Tull waren nie alt. Und sie wurden es auch nie. 1975 als ihre LP „Too young too Rock’n’Roll“ in einem bisher nie dagewesenen Artwork erschienen war, war schon klar, dass sie wohl ewig leben würden. Und um dies zu dokumentieren ist beim Hannibal Verlag nun ein Buch über die Band erschienen, das nicht nur durch das wunderbare Artwork (Hardcover mit wattiertem Stoffbezug und Goldprägung, hochwertiges Papier), sondern auch durch eine Vielzahl von Bandfotos, (handschriftliche) Faksimiles und Memorabilia besticht. Der Text des Buches selbst ist nämlich als eine Art Endlos-Interview gehalten in denen die unterschiedlichen Bandmitglieder der letzten Jahrzehnte ihre Kommentare zu Live-Gigs, Fotos und ihren Alben abgeben. Durchwegs gut gelaunt und voller verschmitzt-ironischem (englischen) Humor erzählen die inzwischen doch etwas angegrauten Herren von der Geburtsstunde des Chrysalis Labels an deren Wiege sie standen, als sie versehentlich noch als „Jethro Toe“ (Jethro „Zehe“) gehandelt wurden. Humor hatte Anderson schon mit der Prdouktion des Films „Ritter der Kokusnuss“ (Monty Python) bewiesen. Neben Led Zeppelin u.a. gehörten sie zu den Geldgebern des Streifens.
...eher Kakao und Sudoku“: Jethro Tull
Ihr ausgefallener Name und ihr pennerhaftes Bühnenoutfit bezog sich auf einen Landwirt mit Namen Jethro Tull, der im 18. Jahrhundert die Sämaschine erfunden hatte. Ob jener allerdings auch die Flöte spielte ist nicht überliefert. Ian Anderson beherrscht sie jedenfalls wie kein anderer und steht in seinem langen alten Mantel, den er von seinem Vater geerbt hat, oft einbeinig vor dem Publikum. Außergewöhnlich an der Band war für ihre Zeit („Sechziger“) auch die Tatsache, dass sie keine Drogen konsumierten und auch so für eine rurale, ländliche Atmosphäre sorgten. Ihre Instrumente beherrschten sie schon von Anfang an perfekt. So ist etwa ihr Hit „Living in the Past“ im 5/4-Takt gehalten und kam trotzdem in die Charts. Das war bisher erst Dave Brubecks „Take Five“ (ebenfalls 5/4) gelungen, so Anderson im Interview. Weiters bemerkt er die kulturellen Unterschiede zwischen Amerikanern und Engländern sowie ihre ganz spezifischen Eigenarten. Dabei ist Ian Anderson aber auch neuen musikalischen Impulsen im eigenen Land nicht abgeneigt und vermeinte mit Aufkommen der Sex Pistols auch das Ende seiner eigenen Karriere. Als aber ein junger Gentleman zum Signieren seiner CDs „für die Mutter“ auf ihn zukam und sich als Joey Ramone entpuppte, war er beruhigt, dass auch die Punks die Suppe nicht so heiß aßen, wie sie sie gekocht hatten.
Alles in Allem eine Bandbiographie, die sich gewaschen hat und deren Beispiel sicherlich Schule machen wird: Tolles Coverartwork, bestes Papier und heiße Fotos mit interessanten Interviews.
Blake, Mark/Jethro Tull/Fleischmann, Paul (Übersetzung)
Die Ballade von Jethro Tull
1. Auflage September 2020,216 Seiten, Hardcover mit wattiertem Stoffbezug und Goldprägung, Format: 28 x 24
ISBN 978-3-85445-687-2
40,00 EUR
Hannibal Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-10-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.