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Peter Bichsel - Geschichten zur falschen Zeit
Buchinformation
Bichsel, Peter - Geschichten zur falschen Zeit bestellen
Bichsel, Peter:
Geschichten zur falschen
Zeit

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(Bücher frei Haus)

Man wird den Schweizer Autor Peter Bichsel für seine lakonische, schein-naive Kurzprosa aus den sechziger Jahren immerdar kennen, aber eigentlich sind Kolumnen längst sein Hauptwerk geworden, die er - oft im monatlichen Turnus - als Gastbeiträge für die Schweizer Presse verfasst. Es ging los mit diesem Band, Geschichten zur falschen Zeit, 44 Kolumnen aus der Magazinbeilage des „Tages-Anzeigers“ (Zürich), 1975-1978. Es folgten: Irgendwo anderswo, 1980-1985. Im Gegenteil, 1986-1990. Gegen unseren Briefträger konnte man nichts machen, 1990-1994. Alles von mir gelernt, 1995-1999. Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule, 2000-2002. Heute kommt Johnson nicht, 2005-2008. Im Hafen von Bern im Frühling, 2008-2011. Über das Wetter reden, 2012-2015. Dazu noch bei Suhrkamp ein großer broschierter Sammelband „Kolumnen, Kolumnen“.

Wie sind diese meist nur vier Taschenbuchseiten langen Texte?
Sie sind schein-privat.

Bichsels Frau, eine Schauspielerin, tritt an keiner Stelle auf, ebenso wenig seine Tochter oder sein Sohn. Eher schon der „bekannte Schweizer Schriftsteller F.“, das ist dann Max Frisch, wie seinerzeit jeder verstand. Über Jahrzehnte waren Frisch und Bichsel gut befreundet. Ständig wird von banalen Vorgängen berichtet wie: einen Spaziergang machen, sich langweilen, in der Bahnhofwirtschaft ein Glas Wein trinken, mit einem Reisenden ins Gespräch kommen. Oder es wird aus New York berichtet, Bichsel sei öfter drüben, er möge es dort, er habe schon mal davon geschrieben. Die Amerikaner hätten merkwürdige Bilder im Kopf über die Schweiz und wir aber auch, die Leute dort seien nicht, wie überall gesagt werde.

Kein einziges Mal wird erwähnt, warum Bichsel an solche Orte fährt: als Semester-Professor für Literatur und die Kunst des Erzählens oder, fürs Goetheinstitut, als Repräsentant der deutschsprachigen Kultur oder als Kongressteilnehmer. Nie wird über Diskussionen in der deutschen Feuilletonlandschaft oder in seinem Verlag geschrieben, nie erklärt, wann, wie und wie viel unser Autor so arbeitet in der Woche und wovon er wirklich lebt. (Neben den Kolumnen vor allem von seiner weltumspannenden Verkörperung eines Vorweg-Klassikers.)

Er ist Mitglied der Sozialdemokraten gewesen (1957 bis 1995), hatte sogar einen offiziellen Posten dieser Partei: persönlicher Berater von Bundesrat Willi Ritschard (1974 bis 1981). Ein Bundesrat ist in der Schweiz ein Minister der Bundesregierung, einer von sieben und bei der Regierungsführung wechseln sie sich ab, kommen als „Bundeskanzler“ alle mal dran. Die Sozialdemokraten sind in jeder Regierung drin, denn, ziemlich unabhängig von den Wahlergebnissen, wird seit sechzig Jahren dieses Siebenerkollegium von einer sehr breiten (fast: All-Parteien-) Koalition nach einem einvernehmlich beschlossenen Konsens-Schlüssel verteilt.

Man merkt es den „Geschichten zur falschen Zeit“ nicht an, wie herausragend ihr Autor für die Kultur des Landes seinerzeit gewesen ist. (Inzwischen eher Museumsstück einer Moderne von vor fünfzig Jahren, irgendwann in den Suhrkamp-Stadel auch noch eingebürgert, Büchner- und Buchpreis jedoch nie erhalten, allerdings Klassensatzbestellungsgarant.) An politischen und sonstigen Tagesereignissen wie Nationalratswahlen, die Neugründung eines französischsprachigen Kantons im Jura oder die verbreitete Unbeliebtheit des viele Jahre dennoch starken konservativen Bundesrats Kurt Furgler (drei Mal Bundespräsident, also „Kanzler“, zwischen 1976 und 1984) geknüpfte Kommentare bleiben die Ausnahmefälle.

Sowieso zeichnen die Kolumnen sich dadurch aus, dass sie möglichst nie von einzelnen, abgegrenzten Begebenheiten sprechen, eher über Zustände und Einstellungen. Sie sind eher literarisch als publizistisch angelegt. „Dä Bichsel het äbe wiedr mol biz gschpunne“, könnte ein Tagesanzeiger- (später Schweizer-Illustrierte-) Abonnent geraunzt haben.

Wobei „gesponnen“ im Alemannischen der Schweiz schon auch Achtung enthält, die mit der hochdeutschen Begrifflichkeit „Spinnerei“ nur teils deckungsgleich ist. Es schwingt ein Maß heimlichen Respekts gegenüber einer an sich fremden Lebenshaltung mit. Ja-ha, wir, die normalen Bürger, die täglichen Schweizer, die Senkrechten, wir würden so etwas nie machen, zwei Tage am Schreibtisch hocken, um dann so ein Textli ohne Geschichte zum Vorzeigen! Wie wenn aus Langeweile ein Kauz, von irgendetwas ausgehend, Garn spinnt, was wir selber schon sehr genau kennen. Der sagt da nichts Bedeutendes. Es liest sich aber ja nicht schlecht. Es ist ein Gescheiter. Aber das ist natürlich g’sponnen. Die von der Literatur machen es manchmal so, muss dann wohl sein.

Verschroben sind die Kurzprosatexte vom Bichsel. Eigentlich ja Essays, die aber tun, als wüssten sie ihren Gegenstand nicht genau und als würden sie dann einfach wieder aufhören, bevor sie ihre Idee ausgebildet hätten. Man liest das in Zeitungen nicht ungern, wo man weiß, keiner sonst im Blatt dürfte so Diffuses bringen, keiner könnte es so elegant sagen, anderswo als gerade hier und jetzt kann man das nicht lesen, es ist nur für diese, meine Zeitung gemacht worden.

Allerdings später, Jahre hinterher, wenn man weiß, dass er das ein langes Leben immer weiter getrieben hat, wenn man es in der Zusammenballung so eines Buches erlebt (niemand sollte dieses Buch auf einen Rutsch lesen, vielmehr zwischen anderes gestreut, als Meditationspausen), kommt die immer gleiche Manier nicht mehr so gut an. Gerade in den Siebzigerjahre-Kolumnen, so eine Sozi-Lehrer-Bescheidwisserei (raffinierter Lehrer, der sein Alles-am-besten-Wissen für Vorschlägemachen und Ratslossein auszugeben vermag).

In einigen der Texte dann auch noch ein Eigendünkel, verdeckte Herablassung, wie man sie von dem für Hemdsärmeligkeit und Volksnähe berühmten Autor nicht erwartet hätte. Peter Bichsel, der nicht ein einziges Mal über seinen bekannten Politikerfreund, gegen die Kritiker seiner Bücher, über seine Familie im Haus bei Solothurn, über private Neigungen und Lustgefühle, über böse Feinde, über die Nachbarn in seiner Straße, über internationale Brötchengeber, über Kunstauffassungen, über seine guten Freunde schreibt, „schein-privat“ nannte ich dieses „Nah-am-normalen-Leben-Überlegen“ weiter oben, dieser Bichsel kehrt manchmal bei „sozusagen fast Freunden“ ein, bei den Losern und Verrückten. Diesen Typ Volk mag er ganz besonders gern. Nach oberflächlicher Lektüre könnte man das jedenfalls leicht schreiben. Aber stimmt das denn? Ist die innere Solidarität mit den Gescheiterten nicht genau das, was man als Schweizer Sozialdemokraten-Ex-Volksschullehrer-öffentliche Bedenkpausen-Abhalter einfach drauf haben muss?

Zitat:

Natürlich ist er auch ein armer Hund. Er wird darauf beharren - und das mit Recht -, daß er es nicht leicht hat. Geschunden, geschlagen, von Staatsanwälten gedemütigt, von Pflichtverteidigern mit Formeln verteidigt. Von ihnen hat er auch gehört, daß er nicht so sei, sondern so gemacht worden sei.
Er sagt mir - und was er mir sagt, sagt er allen Kunden -, daß, wenn alle so wären wie ich, die Welt gut wäre, aber sie sei es nicht, und er müsse sich auch wehren. Er hält sich selbst für schlecht, schämt sich und beklagt es, und er wird sehr schnell zum Aufschneider, wenn man ihn über Geld oder Frauen befragt.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2015-12-09)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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