Was anzumerken wäre, wenn einer schriebe „Nur in der Schweiz entsprangen die Ströme Europas“: „Rhein u. Rhone“. (Inn ist durch die Lappen gegangen, er führt bei Passau zwar mehr Wasser als die Donau, doch wissen die meisten es nicht und es passt nun mal in die Randspalte nicht mehr hinein in dieser Kompliziertheit.)
„Die Schweizer waren behäbige Schweizer“: „beleibte u. phlegmatische, schwerfällige“. Seltsam, dass „phlegmatisch“ hier nicht auch noch erklärt werden muss, auf derselben Seite „Petition“ aber doch: „(lat.) Eingabe, Bittschrift“.
Immer habe ich sie gern gehabt, diese Reihe „Suhrkamp BasisBibliothek - Texte und Kommentar“, keine gelben Heftchen, sondern richtige, schön hergestellte Taschenbücher mitsamt Autorenbiografie, Werkregister, Sekundärliteraturliste, Stellenkommentar seitlich auf jeder Seite, ausführlicher dann hinten im Buch, dazu noch ein Überblick, was die Sekundärliteratur zur jeweiligen Passage gemeint hat. Aber die meisten Lehrer mochten die Reihe nicht und ließen weiter die gelben Heftchen bestellen. Preislich war’s ja früher auch noch ein ziemlicher Unterschied. Aber wenn Bichsels „Geschichten“ jetzt 7,50 € kosten, dann wohl nicht viel mehr als ein Reclamheft und dann noch das Kommentarheft dazu.
Jetzt Peter Bichsel. Den Büchnerpreis hat er nicht gekriegt. Sonst aber alles, ist steinalt geworden. Trotz dem Rotwein und den Zigaretten. Peter Bichsel war, das ist lange her, einer der Schriftsteller nah an meinem Herzen. Einer der ganz Wenigen, den auch meine Mutter kannte, und, obwohl sie ihn nie las, wusste, dass das ein Guter sei. Eigentlich wussten das nach den sehr schnell zu Lesebuchstücklein gewordenen „Kindergeschichten“ von 1969 in den damals vier deutschsprachigen Staaten die allermeisten von den lesenden Gebildeten. Bichsel, dieser sehr gemütliche, vielleicht ein wenig tumbe Brummler aus der niedlichen Schweiz.
Die Geschichte von Bichsels Aura ist in der gesamten deutschen Literaturgeschichte singulär. Eigentlich nämlich ließ der Mann mit seinen „Kindergeschichten“ die Laufbahn als Erfinder fiktionaler Handlungen gleich wieder sein. Eigentlich schrieb er gar nichts mehr, nur noch kleine essayistische Meditationen für irgendwelche Schweizer Zeitungen, um sein Auskommen zu haben. Ein Autor, der mit dem dritten Buch, alle drei waren recht schmal ausgefallen, einen Welterfolg gelandet hatte, und von da ab, den Rest seines Lebens von dem damit errungenen Legendenstatus leben konnte.
Man kann es der Autorbeschreibung in diesem Buch entnehmen: Peter Bichsel war vom Nachwuchsautor bis auf dieselbe Ebene mit den großen Dichtern schlichter, sparsamer, lehrreicher Kurzprosa geschnellt: Johann Peter Hebel, Robert Walser, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Elias Canetti. Von nun an schrieb er Romane gar nicht mehr auf, er deutete auf vier, fünf Seiten nur noch an, wie es in ihnen, schriebe er sie vielleicht irgendwann doch noch mal, zugegangen sein könnte.
Rolf Jucker, ein deutscher Germanist von der Universität Swansea (wo Bichsel einst zur Lectureship geladen war), zitiert Elsbeth Pulver mit ihren Beobachtungen bei Bichsels Auftritten als Frankfurter Poetikdozent, seinerzeit ein Renner wie seit Adorno nichts mehr im Audimax der Universität: „Da [redet] einer unversehens über Literatur, ohne Tonfall und Vokabular zu ändern [...] - als rede er über den Tisch in der Kneipe.“
Es findet sich in dieser Bemerkung nicht nur der Schlüssel zu Bichsels sehr haltbarer Legende, es deutet sich, macht man sich nur klar, dass ein Weltreisender in Sachen Vortragskunst, so eine Aura sich ja auch mal zurechtlegt, eine gewisse Peinlichkeit an. Es könnte alles ganz echt so sein, wie es aussieht: Die tiefe Stimmlage, die verschliffene Artikulation mit dem kräftigen Dialekteinschlag, sein höchst gemächliches Sprechen, als wisse er selbst nie so genau, wohin ihn die Sätze, die er angefangen hat, am Ende führen werden. Es muss durchaus kein Markenkern sein, wenn da einer aller Welt gerne die helfende Hand hinstrecken möchte, aber doch auch nicht mehr richtig weiß, wie man den Mensch noch retten soll. Es mag ihn das alles von innen heraus beschäftigen und nicht nur die Artikelerzeugung für jene Medienredaktionen, die monatlich oder wöchentliche eine Stück „Nachdenklichkeit“ sehen wollen von ihm. (Die Mehrzahl der „Geschichten“ dieses Bandes sind Zeitungskolumnen aus den Jahren nach „Kindergeschichten“.) Er mag schon sein, der im Herzen Kind gebliebene, der die Kinder liebt für ihr Fragenstellen und die Erwachsenen für ihre allzu fertigen Antworten verspottet. Aber er stellt das jetzt schon zu lange dar, er hat zu oft seinen Typus Nachdenklichkeit für Zeitungskolumnen publiziert. Man muss es sagen dürfen: Eine stille Form der Selbstbeweihräucherung ist dabei.
Wie es in Sri Lanka zugeht - zur Zeit der Tamilenunruhen und nach der Abwahl der Präsidentin Bandaranaike -, wenn man einen Hotelboy hat, der gerne ein Foto hätte, wo er zusammen mit einem drauf ist, damit er es rumzeigen und sagen kann, er habe einen Freund und der sei richtiger Schweizer in der Schweiz, wie es ist, wenn derweil die anderen Schweizer Hotelgäste sich allerlei Tipps für Schnäppchen zuschieben, wenn man sie dann beim Essen beobachtet, stopfen sie es sich so hastig und misstrauisch und überschnell hinein, wie alle Armen, denen man das Lebenswichtige im letzten Moment noch wegnehmen könnte, wie das ist: den Armen in einem der reichsten Länder der Welt erklären, wie arm die Armen anderswo sind, weil hier alle so reich sind, das schreibt Bichsel so:
Zitat:
Unabhängigkeit ist einen Dreck wert, wenn die Macht auf der Welt nicht politisch, sondern wirtschaftlich ist. Man schämt sich hier, man schämt sich hier - aber man nützt ihnen nichts, wenn man nicht hingeht.
Und keine Politik wird diesem Land helfen können, nicht die eigene, und vor allem auch nicht jene, die bei uns betrieben wird. Hier merkt man endlich, daß man dazu gehört, daß man Kapitalist ist, daß der Kolonialismus nicht zu Ende ist. Er ist nur demokratisiert worden, es gibt auf der Seite der Herrschenden nun mehr Schuldige und keine Verantwortlichen mehr.
Gerechtigkeit wäre so etwas, wenn ich ebensowenig nach Ceylon reisen könnte wie die Ceylonesen zu uns und wenn dafür die Ceylonesen ein anständiges Leben in ihrem eigenen Land fristen könnten. Sind sie glücklich? - Wenn schon, warum wollen wir es denn nicht sein?
Wir sind sehr wenig weit gekommen in dieser Welt - und wir behandeln nach wie vor alle Probleme so, als würden wir im 19. Jahrhundert leben (z.B. auch die Probleme der Atomkraftwerke). Es dürfte klar sein, daß die Politik des 19. Jahrhunderts nicht mehr genügt. Wir profitieren kurzfristig davon, daß wir politische Dilettanten sind - wir sind es gerne und mit Absicht.
Unabhängigkeit ist einen Dreck wert, wenn die Macht auf der Welt nicht politisch, sondern wirtschaftlich ist. Man schämt sich hier, man schämt sich hier - aber man nützt ihnen nichts, wenn man nicht hingeht.
Und keine Politik wird diesem Land helfen können, nicht die eigene, und vor allem auch nicht jene, die bei uns betrieben wird. Hier merkt man endlich, daß man dazu gehört, daß man Kapitalist ist, daß der Kolonialismus nicht zu Ende ist. Er ist nur demokratisiert worden, es gibt auf der Seite der Herrschenden nun mehr Schuldige und keine Verantwortlichen mehr.
Gerechtigkeit wäre so etwas, wenn ich ebensowenig nach Ceylon reisen könnte wie die Ceylonesen zu uns und wenn dafür die Ceylonesen ein anständiges Leben in ihrem eigenen Land fristen könnten. Sind sie glücklich? - Wenn schon, warum wollen wir es denn nicht sein?
Wir sind sehr wenig weit gekommen in dieser Welt - und wir behandeln nach wie vor alle Probleme so, als würden wir im 19. Jahrhundert leben (z.B. auch die Probleme der Atomkraftwerke). Es dürfte klar sein, daß die Politik des 19. Jahrhunderts nicht mehr genügt. Wir profitieren kurzfristig davon, daß wir politische Dilettanten sind - wir sind es gerne und mit Absicht.
1979 im „Magazin“ vom Zürcher „Tagesanzeiger“. Bichsel ist in jenen Tagen der persönliche Berater des SP-Bundesrates (Ministers) Willi Ritschard gewesen. Sieben Jahre vor Tschernobyl war das. Drei Jahre nach Bichsels „German Semester“ an der UCLA. Zwei Jahre nach seiner Lese- und Vortragsreise durch Sri Lanka, Australien, Neuseeland, die ihm das Goethe Institut zahlte. Ein Jahr vor seiner Gastdozentur in Essen ist das gewesen. Zwei Jahre vor Bichsels „Spiegel“-Essay über die „Zürcher Unruhe“. Drei Jahre vor den erwähnten Poetikvorlesungen in Frankfurt war das. So wie damals Bichsels Hotelboy-Freund nicht in die Schweiz, konnte ich nicht nach Sri Lanka reisen. Heute kann ich immer noch nicht nach Sri Lanka, der inzwischen bestimmt schon alte Hotel Boy nicht in die Schweiz, zumal sich dort ein Hotelbett nur reiche Menschen erlauben könnten. Es hätte aber dem Ceylonesen auch nichts genutzt, wenn ich 1979 nach Sri Lanka geflogen wäre. Und den Schweizern auch nicht viel, wenn er sich vors Bundeshaus gestellt und den Leuten die Armut erklärt hätte. Aber, kann ja sein, es hat uns allen was genützt, dass Peter Bichsel überall war und danach solche Texte geschrieben hat.
[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2015-01-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.