Das Buch enthält eine Geschichte, die sich bereits ohne größeres, sprachliches Zutun, völlig von alleine tragen würde. Eine Leidensgeschichte, die jeden Pseudo Abenteuer-Roman und jedes Horror Szenario leicht durch das Leben selbst überholt.
Aber mehr als eine Geschichte schreibt Ingrid Betancourt über den eigentlichen Kern des Lebens und der Persönlichkeit, die Freiheit zu entscheiden, wer man selber ist und sein will. Und das in einer Art und Weise was Stil und Ausdrucksvermögen angeht, dass ein echtes Stück Literatur entstanden ist.
Sechs Jahre verbringt Ingrid Betancourt in Gefangenschaft der kolumbianischen Rebellenarmee FARC. Die ehemalige Politikerin, Hoffnung ihres Landes im Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption, auf dem Weg, Präsidentin Kolumbiens zu werden, wird am 23. Februar 2002 entführt und an unwegsamste Orte im kolumbianischen Dschungel verschleppt.
(Ihre beiden Kinder hatte sie zu diesem Zeitpunkt glücklicherweise bereits aufgrund vielfacher Drohungen außer Landes gebracht.)
Hier, an den verschiedenen Orten ihrer Gefangenschaft, zwischen Hoffnung und Resignation, Versuchen der Flucht und Ohnmacht gegenüber den Geiselnehmern, entscheidet sich nicht nur das nackte Überleben (das sowieso), hier schält sich auch der Kern ihrer Persönlichkeit heraus. Die Entwicklung vom hilflosen Opfer zur Überlebenskünstlerin.
Ihr Kampf, durch die Härte der Geiselnehmer und die brutalen Erniedrigungen, denen sie ausgesetzt war, nicht sich selbst zu verlieren ist es, der diesen knapp 730 Seiten in 82 Kapiteln eine intensive Dichte und einen fulminanten Tiefgang verleiht.
Ingrid Betancourts Instrument als Studentin der Politik in Paris und als Politikerin in Kolumbien war und ist das gesprochene und geschriebene Wort. Eine Sprachkompetenz, die es ihr mit Intensität ermöglicht, ihre inneren Entwicklungen und die teils furchtbaren Umstände der Gefangenschaft auf den Punkt treffend zu beschreiben vermag. Hierzu gehört auch, sowohl das Verhältnis zu ihren Entführern wie auch die drangvollen Härten ungeschönt und verstörend Seite für Seite präzise vor Augen zu führen.
Schon der Beginn des Buches in der Frühzeit ihrer Gefangenschaft führt mittels der Schilderung eines (weiteren) letztlich gescheiterten Fluchtversuches unvermittelt hinein in das Geschehen der Gefangenschaft, den körperlichen Zustand und die innere Taubheit der Gefangenen. Als sie es wieder einmal geschafft hatte, die ersten Schritte aus dem Lager heraus hinter sich zu bringen und dann vor drohender Naturgewalt in Angst ausbricht, trifft sie die Scham mit Wucht, wohl immer noch nicht genug gelitten zu haben, um sich dem tobenden Fluss einfach anzuvertrauen. Kaum hat sie Zeit, all ihren Mut zusammen zu nehmen, da ist auch dieser Fluchtversuch bereits vereitelt. Ohne Hemmungen lassen ihre Bewacher ihre Wut über die neuerliche Flucht an Besancourt aus. Der temporeichen, atemlosen Schilderung und den klaren Beschreibungen Ingrid Betancourt kann man sich bereits auf diesen ersten Seiten nicht entziehen. Ein Tempo und eine literarische Qualität, die auch im weiteren Verlauf des Buches nicht nachlassen werden bis hin zur den überstürzenden Umständen ihrer Befreiung hin und in das Leben danach hinein.
Ein Leben hin zu ihren Kindern und ein Leben, dass keine äußeren Fixpunkte mehr bedarf, denn eines hat Ingrid Betancourt in diesen über 6 Jahren für immer gefunden, sich selbst. Und gelernt, dass es nichts auf dieser Welt geben wird, was ihr dies irgendwann nehmen könnte.
Das Buch ist inhaltlich und sprachlich reinweg und ohne jeden Abstrich zu empfehlen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-10-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.