Als Neunzehnjähriger hat der ausgebildete Einzelhandelskaufmann zwar noch nicht seine ansteckende Tuberkulose, aber einen Schatten auf der Lunge. Er wird ins alpine Schwarzach-St. Veit in die Lungenheilstätte Grafenhof eingewiesen, wo man ihn als Stenz aus armen Verhältnissen und nicht völlig ausgebildeten Kranken für nicht bedeutend nimmt. Das wird kommen, als er, für geheilt entlassen, in Salzburg erneut untersucht, ein Loch in seiner Lunge vorweisen kann. Nach mehreren Operationen kehrt er nach Grafenhof zurück, dieses Mal mit einer brandneuen Technologie. In regelmäßigen pumpt man für einen Pneumothorax Luft zwischen Bauchfell und Lunge, um das Loch in der Lunge zusammenzupressen.
Bernhard, dessen drastische Späße auf Kosten von Medizinern notorisch sind, - für die Tode seiner Mutter und seines Großvaters an schweren Krankheiten machte er falsche Behandlung in den Salzburger Krankenhäusern verantwortlich, der eigene jüngere (Halb-)Bruder war als Internist zur Vorlage fürs Stück „Der Ignorant und der Wahnsinnige“ gut -, schreibt in „Die Kälte“, dem Arzt in Grafenhof sei schlecht geworden, da aber er selbst oft genug zugeguckt hätte in Salzburg, wie die Bauchdecke ihm durchstoßen worden sei, habe er das nunmehr eben selbst gemacht.
Zu erzählen wäre hier ein monatelanger Aufenthalt in einer Lungenheilstätte. Eine Phase, in der ein vor dem Leben stehender Jüngling wichtige Bildungsimpulse für sein weiteres Dasein empfängt. Am Ende des Romans wird Bernhard behaupten, er habe seine Ärzte gezwungen, ihn zu entlassen. Er habe es tun müssen, da er nach dem Studium von Dostojewskis „Dämonen“ in Grafenhof keinerlei Möglichkeit gehabt hätte, noch ein Buch dieser Qualität zu finden. Fakt ist, Rudolf Brändle, den lebenslangen Freund, einen Kapellmeister, hatte er in St. Veit als Mitpatient getroffen, schon vor seinem Studium am Salzburger Mozarteum (Musikhochschule). Bernhard schreibt, bei einem Konzert in der Dorfkirche habe er einen Auftritt als Sänger, Bassist, gehabt. Anderswo im Buch liest man allerdings, das Betreten der Kirche sei den Grafenhof-Patienten streng untersagt gewesen. Er habe sich in der Dunkelheit davongeschlichen, verbotenerweise Orgel geübt.
Und so kam es zur Begegnung mit der, neben seinem Großvater, dem Heimat-Schriftsteller mit Staatspreis, wichtigsten Person in Thomas Bernhards Leben. Hedwig Stavianicek, die (jüdische) Erbin der Wiener Pralinenfabrik Hofbauer, eine gegen vierzig Jahre ältere Witwe, in deren Döblinger Eigentumswohnung der Wohnsitz- und Beschäftigungslose auf Jahre hinaus leben und mit der er manchen Mittelmeer-Urlaub verbringen sollte. Sie kam für seine Rechnungen auf, führte darüber allerdings unablässig nörgelnd Buch und zwang ihn dann auch, endlich mal eine verkaufbare Literatur zu erschaffen. Das Avantgardisieren der fünfziger Jahre hatte nützliche Kontakte, aber keine schwarzen Ziffern aufs Konto gebracht. Damit das klar ist: Von Frau Hede, seiner Tante, wie Bernhard sagte, der Hexe, wie Suhrkamp-Verleger Unseld sie in heimlichen Notaten charakterisierte hat, steht kein Wort in „Die Kälte“. Schließlich lebte sie noch. Ihren Auftritt als Lebensmensch erhielt sie 1985 im Roman „Alte Meister“; 1982 war sie einundneunzigjährig verstorben.
Es ließ sich nicht machen, eine tiefäugige, knäbische Russin dem wuschelköpfigen Blondschopf Thomas einen Bleistift reichen zu lassen. Auch sonst muss diesem Profi bald aufgegangen sein, dass er den „Zauberberg“ auf keinen Mal noch einmal schreiben konnte. Mithin kommt von seinen mehrmonatigen Klinikaufenthalten in Grafenhof so gut wie nichts hier zur Sprache. Der Roman springt vielmehr zwischen diversen Zeitpunkten und Bezugspersonen in Bernhards jungen Jahren munter hin und her. Auch das Diktum „Mit der Kälte nimmt die Klarheit zu“ stammt nicht aus „Die Kälte“ (oder „Frost“, dem frühen Meisterwerk, das der Autor hier ebenfalls nicht kopiert), sondern aus seiner Dankrede für einen Literaturpreis.
Immer wieder sind Bernhards Romane mit kompliziert ausgreifenden Satzgebilden formuliert, formen jenen Überschwang nach, in dem sich ein explodierender Schädel radikal entleert. Absätze nirgendwo, alles fließt nur immer weiter. In der Tat fühlt man sich „eingesungen“, wird sich verwundert bewusst, dass es gerade um Bernhards Mutter geht, während wir soeben ja noch beim Primararzt gewesen waren. Allerdings ist „Die Kälte“ genau jenes Werk, wo das bei Bernhard übliche Zusammennähen störend auffällt. Er scheint ein Nebenbeiwerk des Zusatzverdiensts wegen gemacht zu haben. Die Autobiografie war damals zum Warenzeichen geworden. Residenz-Verleger Schaffler bettelte um noch was, mochte Hausverleger Unseld sich ob der Vertragsbrüche hinterher auch schwarz ärgern.
Einmal liest man, die Kindheit sei von seiner Mutter ihm zur Hölle gemacht worden. Anderswo wird dieselbe Mutter zum leuchtenden Vorbild seines eisernen Durchhaltevermögens verklärt. Die Salzburger Wohnung habe nach ihrem fauligen Gebärmutterkrebs gestunken, lesen wir, denken an die altösterreichische Schule der Frauenleiblichkeitsverachtung bei Otto Weininger. Aber nie sei ein einziger Laut des Klagens über ihre Lippen gedrungen, dreht Bernhard es zur Liebeserklärung. Ihren Tod will er in seiner Grafenhofzeit der Verstorbenenliste aus den Salzburger Nachrichten entnommen haben, der wäre ihm systematisch verschwiegen worden. „Herta Pavian“ habe sie dort geheißen. Tatsächlich hatte sie zuerst Bernhard geheißen, nach ihrer vom Großvater lange Zeit nicht geheirateten Mutter, dann am Ende Fabjan nach ihrem Ehemann, der ja nicht Vater von Thomas war. „Herta Pavian“, innerlich habe er sich das immer wieder vorgesagt, habe ihre Beerdigung fliehen müssen, weil ihn dieser Spottchor zum Lachen gereizt habe. (Für zuverlässige biografische Informationen zieht man Bernhards Jugend-Autobiografien besser nicht heran.)
Zitat:
Es sind schon wieder acht Jahre her, da hatte ich eine Schulfreundin meines Vaters ausgemacht, die auch mit meiner Mutter in die Volksschule gegangen war, die meinen Vater kannte, sehr gut kannte, wie ich jetzt weiß, und ich hatte den Mut gehabt, mit ihr einen Zeitpunkt auszumachen, zu welchem Sie bereit gewesen war, über meinen Vater zu reden. Aber einen Tag vor dem Treffen entdeckte ich in der Zeitung ein schreckliches Bild: zwei geköpfte Leichen auf einer Einfahrtsstraße nach Salzburg; die Schulkameradin meiner Mutter, die einzige, die mir über meinen Vater Auskunft hätte geben können, war tödlich verunglückt. Ich hatte mit diesem Schreckensbild in der Zeitung die Gewißheit: ich darf nicht mehr nach meinem Vater fragen.
Es sind schon wieder acht Jahre her, da hatte ich eine Schulfreundin meines Vaters ausgemacht, die auch mit meiner Mutter in die Volksschule gegangen war, die meinen Vater kannte, sehr gut kannte, wie ich jetzt weiß, und ich hatte den Mut gehabt, mit ihr einen Zeitpunkt auszumachen, zu welchem Sie bereit gewesen war, über meinen Vater zu reden. Aber einen Tag vor dem Treffen entdeckte ich in der Zeitung ein schreckliches Bild: zwei geköpfte Leichen auf einer Einfahrtsstraße nach Salzburg; die Schulkameradin meiner Mutter, die einzige, die mir über meinen Vater Auskunft hätte geben können, war tödlich verunglückt. Ich hatte mit diesem Schreckensbild in der Zeitung die Gewißheit: ich darf nicht mehr nach meinem Vater fragen.
Das einzige Foto seines Erzeugers, des Bayern Alois Zuckerstätter, in Berlin verstorben am Ende des Kriegs, habe die Mutter wütend zerrissen, nachdem sie ihn jahrelang über seine Herkunft belogen hätte. Merkwürdig aber, wenn hinten im Buch eine Passage aus der Innenperspektive genau dieses Vaters folgt. Dieser hätte nach dem Tod der Eltern das geerbte Haus auf immer verlassen, Feuer gelegt und zwar mit genau kalkulierter Verzögerung, sodass die Flammen zum Himmel geschlagen hätten, als er mit einer Kurve des Zugs seinen letzten Blick auf die Herkunftslandschaft erhalten habe.
Über die Personalknappheit des Salzburger Spitals nach dem Krieg erfahren wir, dort habe ein Urologe ihm den Pneumothorax angelegt. Des Großvaters Blase sei verstopft gewesen, der Urologe habe Krebs diagnostiziert und der alte Mann sei dieser Diagnose zum Opfer gefallen, sein Blut sei nach und nach vergiftet worden. Dann spritzt der Urologe den Enkel mit einer „Wurstigkeitsspritze“ ein. Der sedierte Bernhard kann hören, wie Katastrophenstimmung während der Operation aufkommt. „Mein Gott“, flüstert eine Schwester. Das Herz setzt aus, er wird wiederbelebt. „Alles in Ordnung, nichts passiert“, hört er den Arzt rufen und jetzt sieht er den Saal im Blut schwimmen. Im folgenden Satz ist ein weißrotes Gebirge aus blutigen Mullknäueln daraus geworden.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-07-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.