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Thomas Bernhard - Thomas Bernhard. Ein Lesebuch
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Bernhard, Thomas - Thomas Bernhard. Ein Lesebuch bestellen
Bernhard, Thomas:
Thomas Bernhard. Ein
Lesebuch

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(Bücher frei Haus)

Anfang der siebziger Jahre kam der Verleger Siegfried Unseld von einem seiner Treffen mit Thomas Bernhard zurück und notierte, vereinbart sei die Herausgabe eines „Readers“. An ihn erinnerte er den Autor bis in die achtziger Jahre hinein noch oft, aber die Veröffentlichungstermine waren wegen Bernhards fleißiger Textfabrikation dann immer schon voll mit Sachen, die dem Autor gewinnträchtiger vorkamen als eine Mixtur aus lang vergessenen Beiträgen zu Literaturzeitschriften, alten und neuen Geschichten, Ausschnitten aus seinen Romanen.

Liest man im vorliegenden Band den Text „Großer, unbegreiflicher Hunger“, den es bereits 1954 in einer von Hans Weigel besorgten Sammlung junger österreichischer Literatur gegeben hat (damals und noch Jahre später wussten bloß eine Handvoll Spezialisten, wer Thomas Bernhard ist), kann man spüren, warum Bernhard diesen Reader gar nicht mehr wollte, nachdem er seine Jugendtexte erst mal wieder nachgelesen hatte. Thomas Bernhard zum Abgewöhnen ist das nämlich. Wer den Autor noch nie mochte, mag hier dann mal lesen, wieso.

Mit Bernhards frühem Tod Anfang des Jahres 1989 kam die Bernhard-Bücher-Schwemme der achtziger Jahre an ihr abruptes Ende. Nun war der Bedarf nach dem „Lesebuch“ wieder da. Raimund Fellinger, zuletzt auch noch Bernhard-Lektor, zu des Autors spottender Verwunderung, denn Fellinger war traditionell der Handke-Betreuer des Hauses Suhrkamp gewesen, Handke und Bernhard hatten sich „auseinander gelebt“, um es milde auszudrücken, gab diese Sammlung dann heraus. Viele Jahre später, anlässlich Bernhards 80. Geburtstag, sollte es von Fellinger noch ein zweites Bernhard-Lesebuch geben, „Aus Opposition gegen mich selbst“ hieß das dann.

Fellingers Nachwort, 1993, wenige Jahre nach des Autors Tod, ist leider wenig mutig und eigenständig ausgefallen. Brav betet er des Meisters selbstgebastelte Lebenslegende nach vom ewig herumgestoßenen, leidenden Großgenie. Aber die Textzusammenstellung ist dafür umso besser. Es gibt ein paar dieser unbekannten Ausgrabungen aus der Frühzeit; leider künstlerisch durchweg unbefriedigend; ein Meister fiel da nicht vom Himmel. Dann sind von den fünf autobiografischen Romanen immerhin drei mit beeindruckenden Auszügen repräsentiert. Dies obwohl sie seinerzeit nur von Residenz und dtv zu kaufen waren, eine auf sie gerichtete Neugierde dem Bernhard-Stammhaus also kaum Zugewinn eingebracht hätte.

Krönung des Bandes schließlich die Schimpfarien aus den letzten drei Romanen, „Holzfällen“, „Alte Meister“ und „Auslöschung“. Gern greift Fellinger die letzten Seiten so eines Buches heraus; ein bei Thomas Bernhard auch angebrachtes Verfahren, schließlich bauen dessen Satzkaskaden in jedem Buch ganz langsam ihre Wucht auf, welche atemlose Schlüsse dann braucht, um nicht zu enttäuschen.

Für die Buchgestaltung herrschte noch ein anderer Geist vor als heute. Unter sämtlichen deutschen Taschenbüchern sind die von Suhrkamp ja vom Format her so ziemlich die kleinsten. Heutzutage setzt man hier gerne auf Ästhetik, auf Luxus: feines Papier, großzügiger Zeilendurchschuss, relativ große Schrifttypen. Bei diesem Lesebuch herrschte noch aldi-Ästhetik: Wenn er so viel Text bekommt, wie man in 365 Seiten Buch überhaupt nur hineinpressen kann, dies selbst heute noch immer für unter zehn Euro, wird der Leser sich freuen. Viel Bernhard für wenig Geld! Leider fühlt man sich beim Lesen nicht so, man findet es zu viel, zu dicht, zumal Bernhard nicht nur der Meister des kompliziertesten Satzbaus, sondern auch des Absätzeunterlassens war.

Wären für so eine Werkhineinführung - den Bernhard-Fan wird es schaudern, aber er braucht doch kein Lesebuch mehr, er hat längst alles komplett - knappere Auszüge nicht manchmal die bessere Lösung gewesen? Dreizehn Seiten „Amras“? Derart kompress gedruckt ist es das halbe Buch. Drei lange Erzählungen bekommt man sogar vollständig geliefert: „Der Kulterer“, „Der Wetterfleck“, „Goethe schtirbt“.

Letzteres ist mit seinem anachronistischen Klassiker-Nonsens zwar eine Überraschung im Rahmen des Gesamtwerks dieses für seine „Finsternis“ und „Ausweglosigkeit“ verschrienen Autors, allerdings auch kaum mehr als eine Pausenclownerie zum Goethejahr 1982. Den „Kulterer“ hätte niemand vermisst, wenn er in diesem Lesebuch nirgendwo erwähnt worden wäre. Einzig der „Wetterfleck“ ist klassischer dunkel-komischer „Alpen-Beckett“.

Ich zitiere aus dem Roman „Das Kalkwerk“ und hoffe, Lesern, die ihn vielleicht immer noch nicht kennen, die Artistik Bernhards damit begreifbar machen zu können.

Zitat:

... tatsächlich verkühle man sich, trinke man ein Glas Wasser zu rasch und also in einem Zuge aus, davor habe er immer in seinem Leben Angst gehabt, sich durch zu rasches Austrinken eines Wasserglases fürchterlich zu verkühlen, andererseits habe er sich dadurch in seinem Leben niemals verkühlt. Eine Woche, bevor er seine Frau erschossen hat, habe er sich aber plötzlich tatsächlich eingebildet, sich durch zu rasches Austrinken eines Wasserglases verkühlt zu haben. Wieser sagt: er, Konrad, habe auf einmal nicht mehr sprechen können, er versuchte zu sprechen, konnte aber nicht. Zur Beruhigung sei er, Konrad, aus der Küche, wo er das Wasser getrunken hatte, wieder auf sein Zimmer gegangen, habe sich hingelegt, sei wieder aufgestanden, fortwährend in der Angst, durch diesen unglaublichen Stimmverlust möglicherweise nicht mit der urbantschitschen Methode fortfahren zu können, daß durch den Stimmverlust das Experimentieren auf einmal ein Ende haben könnte. Und dadurch verliere er vielleicht gar nach und nach die Beziehung nicht nur zur urbantschitschen Methode, sondern ...

Tja, selber weiterlesen! Der Bernhard-Sound beruht nun mal nicht zuletzt darauf, dass er einem das Gefühl gibt, er werde immer weiter und weiter und weiter laufen.

[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2014-10-17)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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