Sabina Berman ist eine der anerkanntesten Schriftstellerinnen Mexikos. Sie hat jüdische Wurzeln und kam 1955 zur Welt als Tochter osteuropäischer jüdischer Emigranten.
In dem hier vorliegenden Roman, dem ersten, der auf Deutsch erscheint, erzählt sie die Geschichte eines uralten Familienbetriebs, einer Thunfischfabrik der Familie Consuelo. Isabelle Consuelo hat sie geerbt und sie kommt nach langen Jahren aus den USA zurück, um die Fabrik fortzuführen. Aus ihrer Perspektive wird die Geschichte erzählt, wie die Fabrik modernisiert wird, um sich in einer globalisierten Welt und einem total veränderten Weltmarkt behaupten zu können.
Doch da ist auch Karen Nieto, ein Findelkind, das gleich zu Beginn des Romans eingeführt und beschrieben wird:
„Ein mageres Mädchen, in einem weiten, weißen T-Shirt, das im Wind flattert, mit angewinkelten Beinen, die Knie gegen die Brust. Ein Mädchen, das gegen Wind und Meer anflüstert:
Ich.
Ich.
Da erhebt sich eine große Welle und bricht, und in dem Getöse weiß das Mädchen nicht mehr von sich, verschwindet für sich, ist nicht mehr. Wo ist dieses Ich geblieben? Dieses zerbrechliche Gebilde aus Worten hat sich verflüchtigt, und ein gewaltiges Nicht-Ich hat seinen Platz eingenommen: das Meer.
Karen Nieto ist eine Autistin. Sie verfügt über ein außergewöhnliches Gedächtnis und zeichnet ganz hervorragend. Da ihr IQ sehr niedrig ist, landet sie in einer Schule für geistig Behinderte. Irgendwann erkennt ihre Tante Isabelle, die sich ihrer angenommen hat, ihre Begabung und stellt einen Privatlehrer für Karen ein, der sie entsprechend fördert. Für Sabina Berman ist Karen eine Art Gegen- Symbol für eine Welt, die immer noch geprägt ist durch Descartes` Diktum „Ich denke, also bin ich“ mit dem Karen in späteren Jahren so hart ins Gericht gehen wird, dass sie sogar seine Bücher verbrennen möchte.
Die Figur, das Denken und das Wesen von Karen Nieto sind eine literarisch gelungenen Kritik an dem Standarddenken unserer Zeit, das im Roman repräsentiert wird durch zwei Männem, denen Karen Nieto auf ihrem Weg begegnet. Da ist zum einen der Wissenschaftler Huntington, einem Spezialisten für Schlachthofe für humanes Töten, bei dem Karen studieren wird, und später dann ein Mann namens Gould, der Karens geniale Erkenntnisse zu Geld machen will.
Während und nach ihrem Zoologiestudium entwickelt Karen eine absolut umweltverträgliche und stressfreie Fangmethode für Thunfische und verhilft so der Firma ihrer Tante Isabelle zur Rettung. Karen ist für Sabina Berman eine Figur, mit deren Leben und dessen Schilderung sie die Zerstörungskraft instrumentellen Denkens entlarvt, das nur nach Erfolg, Anerkennung und Macht giert. Dem stellt sie die Autistin Karen gegenüber, die in der Lage ist, einfach zu sein, das Leben um sie herum, gerade auch das der nichtmenschlichen Natur, wahrzunehmen und zu spüren.
Es ist ein vielschichtiger Roman, der Tierschützer ansprechen, aber auch verstören wird. Ein Roman, der erzählt von eigenwilligen Frauen, die sich anders verhalten, als ihre Umwelt es erwartet. Ein Buch, das dem Leser die Augen öffnen möchte für die Vielschichtigkeit des Seins auf dieser wunderbaren Welt.
Sabina Bermann, Die Frau die ins Innerste der Welt tauchte, S. Fischer 2012, ISBN 978-3-10-021606-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-06-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.