Es ist ziemlich selten, dass mich ein Buch von der ersten Seite an regelrecht gefangen nimmt. Oft braucht es eine Weile, bis man in den Stil, die Thematik und die handelnden Personen hineingefunden hat, bis man sich in das Buch hineingearbeitet hat.
Bei dem vorliegenden Roman "Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen" der 1969 in Los Angeles geborenen Amerikanerin Aimee Bender hat mich die bilderreiche und mit wunderbaren Wortschöpfungen angefüllte Sprache sofort in ihren Bann gezogen. "Das erste Mal passierte es an einem Dienstagnachmittag." Mit diesem Satz beginnt sie einen Roman über die ganz besondere Begabung eines Mädchens aus einer Familie mit jüdischen Wurzeln. Kurz vor ihrem neunten Geburtstag entdeckt Rose Edelstein, einen von ihrer Mutter gebackenen Zitronenkuchen probierend, dass sie beim Essen nicht nur den besonderen Geschmack des Kuchens erkennt, sondern zum ersten Mal hat sie dabei ein Gefühl. Sie empfindet Traurigkeit, eben genau das Gefühl, mit dem ihre Mutter diesen Kuchen hergestellt hat, obwohl sie ihrem Mann und ihren beiden Kindern gegenüber etwas ganz anderes zeigt.
Als sie am gleichen Tag beim Abendessen, als es Huhn mit grünen Bohnen gibt, dieselbe Traurigkeit "schmeckt", ist sie überzeugt, eine außergewöhnliche Begabung zu haben. Rose ist erst neun, sie ist irritiert über das, was die von Erwachsenen hergestellten Speisen ihr über deren Gefühlswelt verraten. Mit der Zeit ist sie auch in der Lage, nicht nur das der Speise entsprechende Gefühl zu orten, sondern sie kann die Herkunft etwa eines Eis genau zurückverfolgen bis in den Ort, wo das Huhn es gelegt und sie kann die Stimmung beschreiben, die um den Bauernhof und bei den dort lebenden und arbeitenden Menschen herrscht.
Mit der Zeit und dem Älterwerden lernt Rose, mit ihrer Gabe und ihrem Talent umzugehen und sie wird auch der Verantwortung, die ihr dadurch zuwächst, gut gerecht. Jahrelang etwa weiß sie ganz genau, dass ihre Mutter einen Liebhaber hat. Sie schmeckt es aus ihrem Essen heraus, wann sie sich mit ihm getroffen hat, und was sie dabei erlebt hat. Doch Rose schweigt lange und als sie ihr Wissen der Mutter offenbart, geschieht es sehr sensibel.
Die Handlung verfolgt die Jahre zwischen Roses erstem Entdecken ihres Talents bis zum frühen Erwachsenenalter, als sie in einem französischen Bistro arbeitet, das sie entdeckt hat. Dort gelangt ihre Gabe zur vollen Reifung. Doch nicht nur die Geschichte Rose wird erzählt, sondern auch die Charakterisierung ihrer Mutter ist Aimee Bender gut gelungen. Erst recht die Darstellung von Rose Bruder Joseph, der in diesem Buch wie der andere Pol von Rose beschrieben wird. Auch er ist hoch begabt, doch seine Intelligenz ist im Gegensatz zu der seiner Schwester überhaupt nicht emotional. Er leugnet Emotionen, macht sich zu und hat panische Angst vor dem Verlust von Kontrolle.
Rose ist immer im Kontakt mit ihm, spürt, was mit Joseph vor sich geht, mehr noch als bei ihrer Mutter. Eines Tages wird sie im Zimmer des Bruders Zeuge eines Geschehens, was sie für sich behält und über das der dadurch in spannende Erregung versetzte Leser erst ganz am Ende des Buches aufgeklärt wird.
Mit großer sprachlicher Eleganz, einem regelrecht strahlenden Wortschatz, mit einem an Bildern und Assoziationen reich bestückten Stil hat Aimee Bender ein wunderbares Buch über Emotionen geschrieben.
Ein Buch, das ich von der ersten bis zur letzten Seite kaum aus Hand legen wollte, und das mich, wie gesagt, gefangennahm von der allerersten Seite an.
Aimee Bender, Die besondere Traurigkeit von Zitronenkuchen, Berlin Verlag Taschenbuch 2012, ISBN 978-3-8333-0853-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-08-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.