Mr. Sammler kommt aus Krakau. Er war vor dem Krieg Korrespondent in London, er hat den Holocaust in Polen überlebt, seine Frau ist darin umgekommen. Wir schreiben 1969 und Mr. Sammler lebt in New York. Die Rente aus Deutschland stockt sein Neffe Dr. Gruner, ein Chirurg, laufend auf. Mr. Sammler ist Mitte siebzig und geht in Manhattan spazieren. Er beobachtet die Stadt und die Menschen.
Er wohnt bei seiner verwitweten Nichte Margot. Sie ist das Musterbeispiel einer schusseligen liberalen Bildungsbürgerin. Sammlers Tochter Shula lebt in eigener Wohnung. Ihr Vater hält sie für verrückt. Sie hat die fixe Idee, Sammler schriebe an einer Biographie über H.G. Wells. Ungebeten stiehlt sie ein wertvolles Manuskript, das er nicht einmal benötigt. Dr. Gruner, den Sammler schätzt, hat alte Geschäftsverbindungen zur Mafia. Gruners Tochter Angela, gescheit und attraktiv, ist eine ausgeprägte Nymphomanin. Ihr Bruder Wallace ist ebenso unzurechnungsfähig wie Shula, dabei hoch intelligent und sehr rührig. Er sammelt in seiner Biographie Beinahe-Positionen: Er ist beinahe Physiker, beinahe Rechtsanwalt, beinahe Doktor der Verhaltenswissenschaften geworden. Jetzt ist er Pilot mit fabelhafter Geschäftsidee für ein weiteres Fiasko.
Mr. Sammler erlebt sein eigenes Fiasko bei einem Vortrag in der Columbia University. Er wird in der damals üblichen Weise niedergeschrieen und am Weiterreden gehindert. Im Autobus kommt Mr. Sammler ungewollt einem Seriendieb auf die Spur und dadurch selbst in Gefahr. Die Aktivitäten seiner Verwandten verwirren sich zu einem Handlungsknoten, in dessen Zentrum Mr. Sammler alle Hände voll zu tun bekommt. Dann stirbt sein Neffe, seine einzige Stütze, an einer Gehirnblutung. Mr. Sammler spricht das Totengebet und schließt: „Denn das ist die inneliegende Wahrheit – dass wir alle wissen, Gott, dass wir wissen, dass wir wissen, wir wissen, wir wissen.“ Damit endet der Roman.
Im Übrigen ist Mr. Sammler ein skeptischer Humanist und Philosoph. Er reflektiert permanent die Bedingungen der eigenen Existenz wie die seiner Umwelt. Welche seiner Gedanken im Buch habe ich mir angestrichen? Zum Beispiel über die Studenten: „In ihrer Verachtung der Autorität achteten sie auch keine Menschen.“ Oder über das Sexualleben: „Nichts schien verletzender, als von einem Laster befallen zu sein, das kein Spitzenlaster war.“ Oder über die menschlichen Typen auf dem Broadway: „Nicht nachgeahmt sind der Geschäftsmann, der Soldat, der Priester und der Spießer. Der Standard ist ästhetisch.“ Oder eine Prophezeiung: „Eine Oligarchie von Technikern, Ingenieuren … würde kommen, um riesige, mit zigeunerhaften, narkotisierten, blumengeschmückten ‚ganzen’ Halbwüchsigen gefüllte Slums zu regieren.“ Und: „Ein ‚interessantes’ Leben ist das höchste Ideal der Stumpfsinnigen.“ Sein eigenes Ideal: „Das Beste, was ich gefunden habe, ist Abgeschiedenheit. Nicht wie sich Misanthropen lossagen, durch Urteilen, sondern durch Nicht-Urteilen.“
Bellows Roman ist ein Buch über die Achtundsechziger in New York und ihre Welt und zugleich viel mehr: ein Werk über den Einsamen in der Moderne.
[*] Diese Rezension schrieb: ArnoAbendschoen (2010-05-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.