„Vi tsu derleb ikh im shoyn tus bagrobn“ besagt ein alter jiddischer Fluch: „Ich hoffe, ich lebe lange genug um dich zu begraben“. Aber in diesem Roman aus England von Ned Beauman möchte man es sich noch einmal überlegen, wer wirklich der Verfluchte ist, denn „Boxer, Beetle“, wie die 2010 erschienene Originalausgabe heißt hat es wahrlich in sich. Zwei Geschichten – eine um 1934, die andere in der Jetztzeit – werden durch einen vermeintlichen Dankesbrief Adolf Hitlers an Philip Erskine zu einer atemlosen, gewalttätigen, grauslichen und grausamen Erzählung verbunden, die einem ob ihrer Absurdität und gleichzeitigen Wahrhaftigkeit oftmals den Atem verschlägt. Angesprochener Erskine hatte in einer Höhle einen seltenen Käfer gefunden, den er mit Hilfe des Boxers Seth „Sinner“ Roach zu einer Superrasse züchten möchte. Und obwohl Sinner nicht gerade das Abbild eines Mannes ist, vereinigt er doch die meisten von den Nazis geforderten Eigenschaften, die ein richtiger Arier ebenso haben sollte. Bis auf die Tatsache, dass er Jude ist und zu klein ist, aber davon stand ja nichts in der Propaganda, nur hart, flink, zäh wurde erwartet und in diesen Eigenschaften beweist sich Sinner mehr als talentiert.
Schön, weil er es nicht wissen kann
„Ohne Mutation keine Evolution“, dürfte sich Philip Erskine gedacht haben, als er ausgerechnet den proletarischen und eher derben Sinner für seine biologischen Experimente auserwählt. Die Tatsache, dass Sinner Jude ist, hindert ihn – den verkappten Faschisten Erskine - nicht daran, ihn als das beste Exemplar für seine Forschungen zu betrachten. Philip Erskine beschreibt Seth „Sinner“ Roach mit den Worten: „Er war vielmehr wie ein Fuchs oder Hirsch, ein Lebewesen, das umso schöner ist, weil es nicht wissen kann, dass es schön ist. Ein mutiges Lebewesen, das davon ausgeht, dass die Welt aufhört zu existieren, wenn es schläft.“ Erskine selbst ist alles andere als eine Nietzscheanischer Übermensch, er träumt oft schlecht, und fühlt sich eher wie ein Insekt das in einen Menschen reinkarnierte, also das genaue Gegenteil von Kafkas Gregor Samsa.
Leichen pflastern seinen Weg
Die Geschichte beginnt mit einem Mord, an Mr Zrszak: „Auf dem Schreibtisch lagen neben dem Kopf des Ermordeten ein Zeichenblock, ein Bleistift, ein Radiergummi mit dem Titel Wie man Hunde und Katzen zeichnet.“ Die literarische Figur einer Katachrese (oder ist es eher ein Zeugma?) wird hier gut vorexerziert, denn was hat der Kopf des ermordeten mit einem Bleistift und eine Radiergummi zu tun? Stuart, der für Zrszak gearbeitet hatte, entdeckt in seiner Wohnung den Brief Hitlers an Philip Erskine, in dem sich Hitler für Erskines Entdeckung bedankt. Doch bald wird er selbst zum Opfer, denn er muss einen gewissen Waliser zur Leiche des Boxers bringen. Auf diese Weise wird die Geschichte von Erskine und Sinner, die ja in der Vergangenheit passierte, aufgerollt und auch die Frage, wie Zrszak zu diesem Brief gekommen ist aufgeklärt. Die Geschichte ist so verrückt, dass es einem schwer fällt, sie nachzuerzählen, aber ein paar Kostroben von Beaumans Ausdrucksweise dürften die Lesenswertigkeit des Romans gut illustrieren. Die Erzählung ist so gut und authentisch geschrieben, dass Ned Beauman sich selbst am Ende des Romans noch in einem Chat einbringen kann, ohne dass es lächerlich wirkt. Sinner ist ein proletarischer Charakter, wie er zuletzt nur von Scorsese in „Gangs of New York“ erschaffen wurde, mehr Tier als Mensch, aber faszinierend wie das Aufsteigen und der Crash der Challenger nach 15 km. Als Zuseher erliegt man dem Charme der puren, primitiven Gewalt des Geschehens ohne etwas dagegen oder dafür tun zu können.
Gewalt, Alkohol und… Käfer
Wenn Beauman über Sinners Alkoholkonsum schreibt, ist damit sein „sündiges“ (engl.: sin) allerdings nur angedeutet. „Man verzog unwillkürlich das Gesicht, aber wenn man genug davon trank, fühlte es sich an, als entdecke man in seinem eigenen Haus ein verborgenes Zimmer, von dessen Existenz man nichts geahnt hatte. Man wollte nicht bloß um die Ecke spähen. Man wollte seine Dimension erfassen.“ Sinner wollte sich die Traurigkeit mit Trinken auf Abstand halten: „Aber er hatte oft das Gefühl, dass Sinner nicht trank, weil er traurig war, sondern weil er das Betrunkensein betrachtete, wie er fast alles betrachtete: als ein Gelände, das es zu erobern, einen Gegner, den es herauszufordern, einen Liebhaber, den es zu verzehren galt.“ Und auf diese Art und Weise betrachtete er nicht nur das Trinken, sondern auch die Frauen, Männer und Käfer, wie es sich in einem groß angelegten, spannenden Showdown am Ende des Romans rächen wird. „Die Juden kennen keine Sünder, Seth,“, pflegte Rabbi Brasch zu Sinner zu sagen, „bei uns gibt es nur Idioten.“ Damit sei auch wohl auch dieser armen Seele, der sündigen Seele Sinners, vergeben worden.
Wer mehr über Hitlers Schädel und Eva Brauns Unterwäsche, die in einem Gut in der Nähe bei Moskau in einer verlassenen Barockkirche liegen, oder über Pangäisch, Volapük, Orba, Esperanto, Thule-Gesellschaft, Operation Paperclip, Skull & Bones, Sephiroth, goyische Midas, Oscar Gude, Enicocephaliden und Anophthalmus erfahren möchte, ist bei Beauman an der richtigen Adresse. Ein Fiction-Roman im wahrsten Sinne des Wortes, großes Kino, auch für kleine Leute.
Ned Beaumann
Der Boxer
Du Mont Buchverlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-07-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.