Kolportageroman hört sich irgendwie hochgestochen an. Dabei bedeutet der Begriff nichts anderes als Trivial-/Unterhaltungsliteratur. Doch darf man Vicki Baums (1888-1960) „Menschen im Hotel“, dessen bewusst gewählter Untertitel heute meist unterschlagen wird, nicht unterschätzen.
Zur gleichen Zeit entstanden wie Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“ (1929) gehört dieser ebenfalls zu den ersten deutschen Romanen, die den Großstadtmenschen in den Mittelpunkt rücken. Ein wichtiger Unterschied zu „Berlin Alexanderplatz“ ist: die Protagonisten sind keinem Kulturschock mehr ausgeliefert, wie Döblins Franz Biberkopf, und müssen anders als dieser ihre Beziehung zur modernen Großstadt nicht erst definieren, um sich in ihr zurechtzufinden.
So verzichtet Vicki Baum auch auf eine detaillierte Beschreibung des Berliner Großstadtmilieus. Das hatten die Massenmedien zu dieser Zeit ohnehin längst entmystifiziert. Unter dieser Voraussetzung beschränkt sie sich im Wesentlichen auf den übersichtlichen Lebensraum des (vermutlich Adlon) Hotels. Mehr noch, sie macht dieses zum Symbol des modernen Lebens: „Das ganze Hotel ist ein dummes Kaff, Herr Kringelein. Man kommt an, man bleibt ein bißchen, man reist ab. Passanten, verstehnse. Zu kurzem Aufenthalt, wissense. […] Hundert Türen auf dem Gang, und keiner weiß was von dem Menschen, der nebenan wohnt. Wennse abreisen, kommt ein anderer an und legt sich in Ihr Bett, Schluß.“ (Baum 1972, S. 50)
Fünf Personen rücken in den Vordergrund. Kringelein, ein todkranker Buchhalter. Kleiner Angestellter, der vor seinem Ableben noch einmal die Welt des großen Mannes erleben will. Sich trotz aller Bemühungen aber ständig als tollpatschiger Provinzler zu erkennen gibt. „Er hatte seinen Überzieher noch nicht ausgezogen, er hielt die bebenden Hände in den Taschen über den alten zerbröckelten Fredersdorfer Butterstullen geballt“ (Baum 1972, S. 19)
Ihm fehlt jeglicher bürgerlicher Habitus, um seine Rolle authentisch zu spielen. Die Großstadt kennt er nur aus den erwähnten Massenmedien, was eben doch nicht ganz ausreicht, um sich souverän in ihr zu bewegen. „Man lebt ja heutzutage auch in der Provinz nicht außerhalb der Welt. […] Aber in Wirklichkeit schaut es eben doch anders aus“ (Baum 1972, S. 46)
Ein Retter naht. Ausgerechnet der gleichgültige Dr. Otternschlag: „Sehnse, ich wollte längst hier ausziehen, bin nur zu faul. […] Ganz egal, wo man sich aufhält. Kann ebenso gut hier bleiben.“ (Baum 1972, S. 25), geht ihm zur Hand. Zunächst als Überbrückung seiner Zeit, aus Langeweile, nicht der Person wegen. Denn vom Krieg geprägt und als Invalide gezeichnet, „die große Schweinerei mitgemacht als Arzt bis zum Schluß. Granate in die Visage […] Wer fragt danach?“ (Baum 1972, S. 48), hat er mit seinen Mitmenschen längst abgeschlossen. Ausgerechnet dieser Kringelein erweckt neuen Ehrgeiz in ihm: „Halt – dachte er –, da ist ja dieser Mensch. dieser Kringelein, dieser arme Kerl. Dem müssen wir also das Leben zeigen.“ (Baum 1972, S. 181)
Doch da hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Auch einem Kringelein bleibt Otternschlags pessimistischer Sarkasmus nicht verborgen. So nutzt er die Chance Otternschlags Verspätung, sich dem Baron Gaigern anzuschließen, der eine Menge vom Amüsement versteht.
Gaigern, aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammend, hält sich mit Diebstählen über Wasser. Dies jedoch stets seiner Herkunft angemessen: „Menschenfreundlichkeit und Wärme lagen so tief in seinem Wesen verankert, daß seine Opfer davon stets eine gehörige Menge zugeteilt empfingen.“ (Baum 1972, S. 195) Dem Erbe Kringeleins gilt nun seine volle Aufmerksamkeit, da er nach einem missglückten Diamantenraub, bei dem er notgedrungen im Bett der Besitzerin Grusinskaja landete, sich in diese verliebt hat und Geld benötigt, ihr nachzureisen.
Grusinsjaka, das ist eine exzentrische Balletttänzerin, die den Zenit ihres Ruhmes längst überschritten hat. „Was war das für eine grausame und unbegreifliche Welt, die der Grusinskaja den großen Erfolg vorzuenthalten begann?“ (Baum 1972, S. 31) Auch sie verliebt sich in den charmanten Dieb, der unerklärlich wie ein rettender Engel in ihrem Hotelzimmer steht und sie vor der Selbsttötung bewahrt. „Dein Theater ist aus Glas, ich kann durchsehen. Du warst verzweifelt vorhin. Wenn ich jetzt fortgehe, wirst du noch verzweifelter sein.“ (Baum 1972, S. 131) Sie ahnt sein wirkliches Anliegen, will es aber nicht wahrhaben. Denn jemand, der Kraft und Zuversicht spendet, wiegt in ihrer Situation mehr als jeglicher Besitz.
Das würde Generaldirektor Preysing etwas anders sehen. Wenn die Fusion seines dahindümpelnden Betriebes mit der Chemnitzer Stickwaren AG nicht zustande kommt, besteht wenig Hoffnung für Ansehen und Unternehmen. Preysings Problem, er ist zu ehrlich für die neuen Regeln der Börse: „Er kam sich plötzlich vor, als wenn er mit Schiebern an einem Tisch säße, mit unernsten Leuten ohne Grundsätze; tief empfand er die Erbitterung des anständigen Menschen […] Man bot aller Welt die anständigsten Bedingungen […] Aber die Welt wollte so etwas nicht. Die Welt wollte ihre gemachten Konjunkturen, ihre lancierten Gerüchte, ihre arrangierten Haussen, hinter denen nichts stand als ein bisschen Windmacherei.“ (Baum 1972, S. 170, 175)
Wie in Döblins „Berlin Alexanderplatz“ ist auch hier das klassische Erzählschema, das noch im poetischen Realismus so präsent war, bereits aufgelöst. Es gibt keine stringente Abfolge mehr. Biographische Einblicke gewinnt man nur bruchstückhaft. Handlungsszenen werden dem Leser in Fragmenten näher gebracht. Entwickeln sich Beziehungen, so bleiben diese oberflächlich. Es gilt das Merkmal der modernen Großstadt, der Mensch ist nie allein und doch stets einsam und auf sich gestellt. Traditionelle Werte und Normen, an die man sich einst klammerte, sind merklich aufgebrochen. Vertreter des einstigen Adels finden sich in der Position des Empfangschefs oder Hoteldiebes wieder. Die solide Wirtschaftswelt des Bürgertums ist abgewirtschaftet. Und der Angestellte hat nichts, womit er sich noch identifizieren kann. Befristung heißt sein neues Stichwort, in einer schnelllebigen Welt der Moderne.
Vicki Baums „Menschen im Hotel“ (1929) hat Karriere gemacht: Fortsetzungsroman in einer Zeitschrift (Berliner Illustrierte), Buch (im Ullstein-Verlag), Theater (inszeniert von Gustav Gründgens), Verfilmung (mit Greta Garbo). „Die Glühwürmchenillusionen von Unsterblichkeit sind mir fremd. Ich habe mir nie eingebildet, […] daß meine Bücher mich überleben werden.“ (Baum 1962, S. 386) So kann man sich irren. Überlebt hat ein ausgesprochen unterhaltsamer Roman, der von der Lebensart der 20er Jahre zu berichten weiß und dabei nicht allzu ernst genommen werden will. Kolportage mit Anspruch. Darf man eine Klassifizierung derart vornehmen? Man darf!
(Zitate entnommen aus:
Baum, Vicki 1972 (Neuauflage): Menschen im Hotel, Eduard Kaiser Verlag, Klagenfurt.
Baum, Vicki 1962: Es war alles ganz anders. Erinnerungen, Ullstein Verlag, Berlin, Frankfurt/M., Wien.)
[*] Diese Rezension schrieb: Alexander Czajka (2007-07-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.