Noch eine Schulgeschichte? Ja, und zwar eine, die es in sich hat. Bassanis kleiner Roman spielt 1929/30 in Ferrara. Der Ich-Erzähler tritt zu Beginn in die erste Klasse der gymnasialen Oberstufe ein. Ihre Zusammensetzung ist neu, er muss seinen Platz dort erst finden. Das ist zunächst ganz wörtlich zu nehmen – er placiert sich, in zutreffender Einschätzung seiner Lage, allein auf einer Bank ganz hinten. Er ist der einzige Jude in der Klasse, begabt, seine Familie wohlhabend und kultiviert. Rasch wird er vom Klassenlehrer umgesetzt und landet neben Carlo Cattolica, dem absehbaren Primus der Klasse, einer aus sehr gutem Haus und eisern an seinem Vorwärtskommen arbeitend. Cattolica ist der Sprössling eines gehobenen Bürgertums, das auch unter Mussolini die bestimmende Kraft ist und diese Stellung auf jeden Fall behalten will. Die neuen Banknachbarn bleiben Konkurrenten und werden nicht warm miteinander.
Dann kommt ein Neuer in den Klassenverband, Luciano Pulga, zwar Arztsohn, doch unverkennbar einem zweifelhaften, gefährdeten Kleinbürgertum zugehörig. So wie sich Cattolica ins Zeug legt, um oben zu bleiben, so strampelt Pulga, um nicht unterzugehen. Der Erzähler empfindet ihm gegenüber von Anfang an eine mit Abneigung seltsam vermischte Sympathie. Er lässt sich von ihm vereinnahmen, sie verbringen viel Zeit miteinander, machen gemeinsam Schularbeiten. Pulga revanchiert sich für erwiesene Wohltaten, indem er dem anderen Einblicke in eine mehr oder weniger verruchte Erwachsenensexualität verschafft.
Pulga ist nicht nur miserabler Schüler aus liederlichem Haus, er ist in seinen Einstellungen stark ambivalent, auch dem neuen Schulfreund gegenüber, und er ist zugleich ein scharfer, gnadenloser Beobachter. Währenddessen wartet Cattolica auf eine Gelegenheit, den Erzähler zu demütigen und seine Kameradschaft zu dem Arztsohn zu zerstören. Er lässt ihn in seiner Wohnung hinter einer Tür mit anhören, was Pulga vor anderen dort, nicht zum ersten Mal, über den jüdischen Schüler und seine Familie äußert. Der Lauscher erblickt sich in einem ihn rasch verstörenden Zerrspiegel. Pulga fügt äußerst hämisch viele einzelne zutreffende Beobachtungen zu einem abstoßenden Gesamtbild zusammen. Da ist jetzt ein mediterraner Gossen-Goebbels am Werk, der auf privater Ebene sein Gift verspritzt.
Die krude Mischung aus Authentischem und boshaft Entstelltem hat für den Erzähler verheerende Folgen. Er verliert den Rest kindlicher Unbefangenheit, das Vertrauen in die Solidität der eigenen Familie, sein Selbstvertrauen dazu. Am Ende sitzt er in der Klasse wieder da, wo er anfing: allein ganz hinten. Die Erfahrung dieses Schuljahres wird für ihn ein lebenslang unbewältigtes Trauma bleiben.
Der literarische Wert von Bassanis Kurzroman besteht vor allem in der gelungenen Verknüpfung sehr unterschiedlicher Motive zu einem organischen Geflecht, in dem sich der Schüler wie in einem Netz verfangen muss. Der Antisemitismus ist dabei noch relativ diskret, stärker schon sind die Spannungen, die das Gegeneinander der Klassen mit sich bringt. Durchdrungen wird alles von psychoanalytisch grundierten Schuldkomplexen, die umso stärker wirken, als sie nicht ausgebreitet werden, sondern angedeutet bleiben. Ein starker, kleiner Roman, der scheinbar betulich beginnt und den man mit wachsender Spannung wie Beklemmung immer rascher zu Ende liest.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-02-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.