Sprache (langue) war für Roland Barthes immer Institution und System und Sprechen (parole) ein „individueller Akt der Selektion und Aktualisierung. Diskurs wiederum bedeutete für ihn eine Arte erweitertes Sprechen, das aus Kombinationen bestehe, durch welche die jeweils sprechende Person den Code der Sprache in der Absicht, ihr persönliches Denken auszudrücken zur Anwendung bringe, so der Übersetzer in seiner Vorbemerkung zu vorliegendem Nachschlagewerk zur Spache der Liebe in alphabetischer Reihenfolge. Das Buch ist weiters in „Fragmente“ (Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen) und „Unveröffentlichte Figuren“ (Aus dem Französischen von Horst Brühmann) gegliedert.
Atopos: ohne Ort
Die Liebenden seien von einer Schlange Gebissenen gleich, schrieb einst Alkibiades, der in Sokrates verliebt gewesen sein soll, verstehen können es ohnehin nur jene, die es selbst erlebt haben, also selbst „gebissen“ wurden. Der Geliebte wiederum wolle aber nicht aufgrund einer bestimmten Eigenschaft, sondern als Ganzes geliebt werden. „Der Andere, dem meine Liebe gilt, bezeichnet mir die Besonderheit meines Verlangens“, fügt Barthes hinzu, und das mache den Unterschied zwischen der analytischen und der liebenden Übertragung aus: „die eine ist universal, die andere spezifisch“. In diesem Zusammenhang steht auch der Begriff des „Atopos“ im Alphabet der Liebe des Roland Barthes. Dieatopia hänge mit dem Eros und dem Zitterrochen zusammen: der andere wird zur Figur meiner Wahrheit, die sich mit keinem Stereotyp erfassen lasse, denn diese sei die Wahrheit der anderen aber nicht meine. Die narrative Wollust, sich dem anderen zu zeigen, mache einen leicht, so Barthes.
Wahre und schlechte Liebe
„Wir sind unsere eigenen Teufel“, schreibt Goethe, der von Barthes immer wieder zitiert wird, „wir vertreiben uns aus unserem Paradiese. In Lukas 8,30 stehe auf die Frage wie viele Teufel es gebe: „I am legion“, soll heißen unzählige. Meine Liebesgeschichte ist meine eigene kleine Heiligenlegende, meine kleine Sage, „die ich mir vortrage, und diese Deklamation einer bereits vollzogenen Tatsache ist der Diskurs der Liebenden“, meint Barthes. Die Liebenden vermögen es selbst am besten, ihre Liebe zum Paradies oder zur Hölle zu machen (Stichwort: Eifersucht): „Der Dunkelste Platz ist immer unter einer Lampe“ (chinesisches Sprichwort). Auch Platon kannte schon die schlechte Liebe: sie ist die leidenschaftliche Liebe, ker: Verhängnis, Tod, Unglück, „ein geflügeltes Missgeschick wie das Alter oder die Pest. Oder auch Krankheit, Betrug, Irreführung, Enttäuschung, Katastrophe“. Der leidenschaftlichen Liebe stehe die wahre Liebe gegenüber, so Barthes. „Wäre die wahre Liebe nicht einfach die des Paares, das sich erträgt: das verheiratete Paar?“ Nietzsche wusste es besser: Gerade in meiner Verkennung dessen, was die Liebe ist, gelange ich zur höchsten Form der Analyse: der Dramatsierung.
„Je veux vivre dans ce rêve“ (Gounod: Roméo et Juliette) wird zum Incipit jeder beginnenden wahren Liebe, bis der Schatten der Erkenntnis auch dieses Rubrum zur Makulatur macht. Ein Buch das zu einem richtigen Hausschatz wird und in keiner Bibliothek fehlen sollte, ein wahrer Thesaurus für die wahrhaft Liebenden.
Roland Barthes
Fragmente einer Sprache der Liebe. Erweiterte Ausgabe. Erstmals das ganze Alphabet.
2015, Suhrkamp, 399 Seiten, grüner Hardcover mit transparentem Schutzumschlag
Aus dem Französischen von Horst Brühmann/Hans-Horst Henschen
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-11-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.