„Das weiße Haus“ ist ein Pastorenhaus auf der dänischen Insel Alsen um 1860. Es ist im Kern das Elternhaus Bangs, der den autobiographischen Roman 1898, auf der Höhe seines Ruhmes, veröffentlicht hat (deutsch erstmals 1910). Der Titel könnte auch lauten: „Die Mutter“, denn um ein Porträt der früh verstorbenen Mutter des Autors geht es vor allem, daneben um den Pfarrhaushalt und einige charakteristische Bewohner des Dorfes, mit denen die Mutter verkehrt. Der Vater, der Pastor also, wird nur skizziert als eine Autorität, die man zwar fürchtet, die jedoch mehr über den Dingen schwebt als tatsächlich interveniert. Hier dürfte auch Rücksicht auf den eigenen Vater genommen worden sein, denn der Pastor Bang, seelisch von allzu zarter Gesundheit, war zeitweise in psychiatrischen Krankenhäusern untergebracht gewesen und relativ früh in einer Anstalt gestorben.
Der kurze Roman stellt die Pastorin auf zweierlei Weise dar. Er lässt sie zum einen ihre Rolle als Familienmutter im Haus spielen oder begleitet sie auf ihren Gängen durch das Dorf – und zum anderen geht er ihrem Denken und Fühlen auf den Grund, indem er sie in vielen Dialogen mehr und mehr Erstaunliches äußern lässt. Die kleinen Episoden verlieren so allmählich ihre idyllische Tendenz und machen uns mit einer Frau vertraut, die vollkommen ernüchtert, ja enttäuscht ist. Ihre Einstellung zum Leben überhaupt erweist sich zunehmend als radikal desillusioniert – und das ausgerechnet in einem Pastorenhaus. Darin - und in genauer Milieuschilderung – liegt die besondere Qualität des Buches.
Nicht nur der Pastor, auch die Pastorin selbst weist Züge einer gewissen Lebensuntauglichkeit auf. Sie schläft lange, ist kaum von Nutzen im Haushalt und pflegt allerlei kleine Schrullen und Leiden. In ihrem Verhalten ist sie merkwürdig kindlich, oft wie ein altkluges Kind. Sie stützt sich vor allem auf ihre junge Freundin Tine, die Tochter des Küsters und Schullehrers. Die vitale, tüchtige Tine ist zweifellos die zweite Hauptperson des Romans. Dann gibt es noch die Kinder – hier vor allem den ältesten Jungen, dessen Namen nie genannt wird. Er ist frühreif, talentiert und ein wenig überdreht, wie die Mutter, der er offenbar nachschlägt. Bang porträtiert sich hier wohl selbst, auch wenn er tatsächlich nicht der Erstgeborene war.
Das sind traditionell die großen Tage im Jahresablauf auf Alsen: Weihnachten, der Geburtstag der Mutter, der Besuch der Tanten oder der von Jugendfreundinnen. Als der Weihnachtsbaum abbrennt, ruft die Mutter: „Wie herrlich, wie herrlich“ – eine erste verdächtige Stelle. Die Mutter empfängt und repräsentiert beim Geburtstag, wie es sich gehört, aber dann: „Als sie glücklich alle wieder fort waren, wusch sich die Mutter die Hände im Teich.“ Sie liest viel, sie liest alles, was sie bekommen kann, und bleibt davon unbefriedigt: „Aber die Wahrheit sagen sie nicht …“ Sie selbst glaubt sie zu kennen: „ … es gibt nichts anderes als den Trieb, und er allein ist Herr und Meister. Der Trieb brüllt zum leeren Himmel auf – er allein.“ Später klingt es ähnlich, wenn sie gegenüber dem Pastor nur ein Gesetz gelten lässt: „ … dass sich das Leben fortpflanzen will … Der Zweck ist, dass gezeugt werden muss … Wenn man sich der Leere des Lebens klargeworden ist, muss man sie ausfüllen … mit etwas Gleichgültigem. “ Er: „Ist denn auch Aufopfern gleichgültig?“ – „Ja – völlig.“
Allmählich kristallisiert sich ihr besonderer Heroismus heraus. Sie sagt: „Sterben, Tine, das ist auch nicht das Schwerste -, es ist viel schwerer, jeden Tag versuchen zu leben …“ Das Buch endet denkbar nüchtern, die letzten zwei Sätze bezeugen einen Heroismus der Nüchternheit: „Zünden Sie die Lampe an, Tine“, sagte sie. „Die Kinder müssen ins Bett, und die Leute müssen versorgt werden.“
„Das weiße Haus“ ist ein impressionistischer Roman, durchtränkt vom Geist des späten 19. Jahrhunderts, und die Mutter ist das Musterbeispiel einer Dekadenten des Fin de siècle. Bezeichnend dafür ist ihr in Rezensionen gern zitierter Satz: „Erst paart sich das Tier, und dann ekelt sich der Mensch.“ Sie scheint den Gehalt von Büchern schon zu kennen, die um 1860 noch gar nicht geschrieben waren - Schopenhauer einmal ausgenommen - und die sie auf dem Buchmarkt vermisst. Auf der anderen Seite ist der historische Hintergrund des Romans eindeutig fixiert: Die Mutter bezieht sich im Gespräch auf die Skandale der Regierung Frederik VII. (1848 – 1863). Bang porträtiert also seine Mutter, indem er ihr Bewusstsein um Inhalte des eigenen in seinen mittleren Jahren erweitert. Wirkt das Buch insofern ahistorisch? Das mag jeder Leser für sich selbst entscheiden. Es kann sein, dass er den glasklaren Stil so sehr bewundern wird, dass er nur noch ein bruchloses Bild vor sich sieht: eine Idylle am Abgrund, düster-schönes spätes 19. Jahrhundert.
(Zitiert nach der Übersetzung von Gisela Perlet.)
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2013-01-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.