Egon Bahr, geboren, 1922, hat es nicht lassen können und die Gelegenheit genutzt, der Nachwelt doch noch etwas zu erzählen von jenen bewegten und bewegenden Jahren, die die Geschichte zwischen den beiden deutschen Staaten dramatisch verändern sollte, die die Weichen stellte für eine neue europäische Konstellation und letztendlich auch als ein Sargnägel für die Zweiteilung der Welt werden sollte. Egon Bahr erzählt in dem vorliegenden Buch vor allem von seinem Aufeinandertreffen mit Willy Brandt Anfang der Sechziger Jahre, als dieser Regierender Bürgermeister in Berlin war, über den Wechsel nach Bonn als Außenminister der Größen Koalition bis zum Bundeskanzler der sozial-liberalen Koalition und seinem Rücktritt 1974 nach der Guillaume-Affäre.
Bei der Lektüre eines in einem rar gewordenen, exzellenten Deutsch geschriebenen Buches drängten sich zumindest dem Rezensenten immer wieder zwei Begrifflichkeiten auf, die das Wesen des Verhältnisses zwischen Willy Brandt und Egon Bahr zu beschreiben in der Lage sind. Zum Einen ein immer mehr in die Vergessenheit geratender Begriff wie der des Weggefährten, der ausdrückt, dass die festzustellenden Gemeinsamkeiten aus einer gleichen Zielsetzung wie der Übereinkunft über den einzuschlagenden Weg hin zu diesem Ziel resultieren. Und bei dem anderen Terminus handelt es sich um den der Kongenialität, der ausdrückt, dass verschiedene außergewöhnliche Begabungen zusammenkommen und zusammen etwas positiv bewirken. Um all das, was Egon Bahr an situativem Handeln beschreibt und anhand eigener charakterologischen Studien ausführt zusammenzufassen, könnte man aus gutem Grund zu der Quintessenz kommen, bei Egon Bahr und Willy Brandt handelte es sich um kongeniale Weggefährten.
Neben dem Menschlichen, das bei den Aufzeichnungen zutage tritt und in mancher Hinsicht auch neu ist, und welches nie die Grenze des Respektes und der Diskretion überschreitet, liefert das Buch noch einmal im Zeitraffer das Projekt der neuen deutschen Ostpolitik. Das, was wohl ohne Wenn und Aber das große historische Verdienst des Kanzlers Willy Brandt bleiben wird, die Befähigung zu einer friedvollen Deutschland- und Europapolitik aus dem machtpolitischen Chaos, das dem II. Weltkrieg erwuchs, wird noch einmal deutlich gemacht. Die Leserinnen und Leser erfahren, wie schwierig es war, sowohl Deutsche aus Ost und West als auch die Siegermächte um die Lager USA und UdSSR wieder sprechfähig zum Thema Deutschland zu machen. Dazu bedurfte es einer politischen Vision und eines sehr elaborierten Verständnisses von Politik, wie es zu diesem Zeitpunkt wohl nur Willy Brandt mitbrachte und einer diplomatischen und kommunikativen Brillanz, die Egon Bahr zu dem unverzichtbaren Partner des Politik-Architekten Brandt machte. Die Kongenialität der beiden materialisierte sich in einer Kombination aus Vision und Pragmatismus sowie aus Diplomatie und Charisma.
Die Erinnerungen Egon Bahrs sind in vielerlei Hinsicht eine sehr wertvolle Ergänzung zu den bereits vorliegenden Werken der Historiographie. Da erzählt einer, der tatsächlich den später so oft bemühten Hauch der Geschichte verspürt hat, wie es war, als man mit den Russen im Kalten Krieg klandestin verhandelt hat, wie es sich anfühlte, wenn die Kränkungen Willy Brandts durch die Revanchisten zu persönlichen Krisen führten oder wie irritierend es sein konnte, wenn die Amerikaner die beiden Sozialdemokraten in einem Hotel in Washington abhörten, harsche Kritik der beiden vernahmen und dennoch die Unterstützung nicht versagten. Bahr beschreibt sehr authentisch die Empathie und Verletzlichkeit seines Freundes Willy Brandt. Und er fasst das mit gestaltete Kapitel deutscher Geschichte mit einer Prägnanz zusammen, das heutige Journalisten erblassen lassen muss. Da bleibt nur die höchste Empfehlung.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2013-05-06)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.