„Sprich auch nur einem Baum vom Gefälltsein“, lässt die Autorin ihren Protagonisten in seinem dreißigsten Lebensjahr zu sich selbst sprechen und dem Hörer wird bald klar, wer und was damit gemeint ist. Mit 30 wird man ihn nicht mehr jung nennen und er wird sich nicht mehr befreien oder von vorn beginnen können. Von 1001 Möglichkeiten hat man vielleicht schon 1000 verbraucht, wie der Dreißigjährige nun selbst denkt. Die Welt schien ihm kündbar, er selbst schien kündbar. Doch nun will er etwas ändern, einen Baum pflanzen ein Kind kriegen, ist dies bescheiden genug?, fragt sich der Protagonist und bald man sich selbst.
Bis zu seinem 30. Geburtstag lebte er von einem Tag zum andern, machte mal dies mal das, Gelegenheitsarbeiten, Maurer oder Elektriker, ganz egal. Jetzt mit 30 wird alles scheinbar anders und er bekommt eine neue, zusätzliche Fähigkeit zu all den anderen: sich zu erinnern. Das Netz der Erinnerungen breitet sich aus und verknüpft seine Freunde, die Molls 1, 2 und 3 oder die Elenas und Louisen. Die erste Elena ist zur Freundschaft bereit, weil sie nun verheiratet ist und ein Kind hat. Damals hat sie ihn an seine Schuld glauben lassen und er hätte diese lieber behalten, als sie gegen die Einsicht eintauschen zu müssen. „Von allen Seiten wird gegen die Wand gedrückt, hinter der er Schutz gesucht hat“. Er will nicht wie die meisten anderen vor der Kränkung, die das Leben ist, sich in den Tod flüchten und darin die einzige Rettung erblicken. Er will wenn schon nicht das Spiel, zumindest die Regeln ändern. So viele unnütze Stunden hatte er mit Freunden verbracht, jetzt will er die Zeit mit sich allein genießen, sich genießen, nichts mehr fordern, einfacher leben und demütig werden. Die Wunschgebäude möchte er am liebsten abreißen. „Was nützt einem das Wissen um die Lichtgeschwindigkeit, wenn einem kein Licht aufgeht?“ In Venedig, wohin er von Rom aus flüchtet, sucht er die Schönheit, um sich dahinter zu verstecken, im Anschauen und Betrachten will er sich ein Versteck suchen. Dreißig ist das Alter, in dem das Sprichwörtliche sich erfüllt und man mit Schrecken feststellt, dass die Eltern doch recht hatten. Oder eben die andern.
Das Paradies könne man nur dort finden, wo die Schönheit sei. Er reist viel und träumt von kollidierenden Zügen, begegnet immer wieder denselben Menschen, den Molls und Elenas. „So vergeht ein Tag mit Zusammenstößen und das in einer Welt in dem ihm alle wie Geister erscheinen.“ Am Ende will er wieder nach Wien, das Ingeborg Bachmann mit hymnenhaft beschreibt, aber darin auch eine „Endstation“ sieht, aus der „kein Gleis hinausführt“. Nachdem er beim Autostoppen mitgenommen wurde, wacht er im Krankenhaus auf und erinnert sich kaum mehr. Dieses Jahr, das dreißigste Jahr, hat ihm die Knochen zerbrochen. Er wird bald geheilt sein. Er wird bald wirklich dreißig sein. „Ich aber sage dir, steh` auf und geh, es ist dir kein Knochen gebrochen!“
Ein beeindruckendes Hörerlebnis für alle, die sich noch an das Alter ihrer Jugend erinnern und sich noch nicht in der Jugend des Alters befinden. Ein Hörbuch, das einen wieder mit dem Leben verbinden könnte, von dem man sich selbst losgelöst empfindet, wie der Protagonist. Oder die Autorin. Schrieb doch nicht zuletzt Marcel Reich-Ranicki damals: „Hier wird nämlich – um es gleich zu sagen – die ganze Welt in die Schranken gefordert (sic!)“. Die Welt ist Sprache und keiner beherrschte sie - die Sprache und die Welt – so wie Ingeborg Bachmann.
Diese Produktion von Radio Bremen stammt aus dem Jahr 1961, Bachmann selbst war damals gerade 35 Jahre alt und hatte zuvor (1953-57) schon vier Jahre in Italien gelebt, das in vorliegendem Hörbuch - impersonifiziert in den Städten Rom und Venedig - auch eine gewisse Rolle spielt, als Zufluchtsstätte nämlich. 1965 war Ingeborg Bachmann endgültig nach Rom gezogen, wo sie mit 47 Jahren an den Folgen eines Brandunfalls in ihrer Römer Wohnung starb.
Das dreißigste Jahr
Hörbuch
Gert Westphal und Oswald Döpke (Sprecher)