Ausgezeichnet mit dem LUCHS – Preis der ZEIT für den Monat Juli 2014 wird das hier vorliegenden Buch des britischen Autors Tom Avery vielleicht in der zweiten Jahreshälfte mehr Resonanz und Anerkennung erfahren als bisher. Verdient hat es diese sensible Buch allemal.
Tom Avery arbeitet als Lehrer in London mit Kindern in sogenannten „schwierigen Verhältnissen“. Auf die Idee zu diesem Buch kam er, als in seiner Klasse ein Kind ein Geschwisterkind verloren hatte. Man spürt die ganzen 150 Seiten des Buches über, dass Tom Avery genau weiß, wovon er schreibt, wenn er seine ich-erzählende Protagonistin Kaia schon zu Beginn des Buches sagen lässt:
„Ich bin Kaia, für immer festgefroren.
Für immer festgefroren.
Für immer erstarrt.
Also lese ich nicht. Ich will mich nicht erinnern. Stattdessen schreibe ich das hier.“
Vor einiger Zeit hat sie ihren älteren Bruder, der ihr immer eine Stütze war, tot in seinem Blut in seinem Zimmer gefunden. Ihre Mutter beginnt kurz danach ihren Kummer und ihre Trauer in Unmengen von Alkohol zu ertränken, und einen Vater hat Kaia nie gekannt.
Ihre Freunde und Freundinnen in der Schule geben sich alle Mühe sie zu trösten, aber sie sind mit der Situation genauso überfordert, wie die Lehrer in Kaias Schule. Kaia erstarrt immer mehr. Eines Tages kommt ein neuer Schüler in Kaias Schule und Klasse. Völlig verdreckt und in Lumpen gekleidet, verhält sich der Junge wie ein wildes Tier und spricht kein einziges Wort. Er wird sofort zum Gespött der anderen Kinder. Nur Kaia fühlt sich diesem seltsamen Jungen sofort nahe und sucht den vorsichtigen Kontakt mit ihm.
Sie spricht mit ihm und über die Zeit schafft sie mit dieser Beziehung wieder den Schritt zurück ins Leben, heraus aus ihrer Erstarrung und Trauer. Auch ihre Mutter scheint den Weg aus der Sucht zu finden und so bewahrheitet sich eine der 10 Lebensregeln ihres toten Bruders, den sie endlich loslassen und gehen lassen kann, genau wie ihren stummen Freund: „Alles wird anders, nichts bleibt wie es ist.“
Tom Avery hat über das ganze Buch hinweg realistische und fantastische Elemente so miteinander verbunden, dass man oft gar nicht genau weiß, was Kaia nun tatsächlich erlebt oder was sie nur träumt oder in ihrer Fantasie erlebt. Auch ob es den zerlumpten Jungen tatsächlich gibt, bleibt ungeklärt.
Mit einer an manchen Stellen sehr weichen, dann wieder im Ton sehr harten Sprache gelingt es Tom Avery hervorragend, die verschiedenen Seelenzustände von Kaia zu fassen, und einen inneren Selbstheilungsprozess zu beschreiben.
Für mich ist „Der Schatten meines Bruders“ eines der beeindruckendsten Jugendbücher dieses Jahres.
Tom Avery, Der Schatten meines Bruders, Beltz & Gelberg 2014, ISBN 978-3-40782049-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-09-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.