Eigentlich ist es wie immer bei Austers Romanen: wenn der Leser denkt, nun müsse es gleich eine Vollbremsung geben, gibt der Autor ganz im Gegenteil Vollgas. Die meisten Schriftsteller erleiden bei diesem Verfahren unweigerlich literarische Unfälle, und schlimmer noch: ihre Leser erleiden sie mit. Nicht so Paul Auster. Seine Stories sind nicht nur ungewöhnlich, er versteht es auch, die Welt durch sie quasi auf den Prüfstand zu stellen. Er schafft Laborbedingungen, um Fragen aufzuwerfen, für die sich der Leser vom Autor nichts sehnlicher wünscht als eine Antwort, um dann festzustellen, dass er sie nicht erhält, gar nicht erhalten kann - aber mit dem Gelesenen alleingelassen sich eine immerhin mögliche Antwort selbst geben muss. So ergeht es ihm auch mit der "Musik des Zufalls", original im Jahre 1990 bei Viking/Penguin Inc., New York und 1992 in der deutschen Übersetzung von Werner Schmitz bei Rowohlt erschienen. Nashe, eine im Grunde gescheiterte Existenz, bringt innerhalb eines Jahres fast 200.000 Dollar durch, indem er ziellose Reisen mit seinem nagelneuen Saab kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten unternimmt. Als ihm nur noch wenige tausend Dollar bleiben, lernt er den jungen Glücksspieler Pozzi kennen, der zu einem Privatspiel mit zwei Lottomillionären unterwegs ist. Nashe stellt ihm sein restliches Geld als Einsatz zur Verfügung und setzt alles auf eine Karte. Doch Flower und Stone, die beiden reichen und skurrilen Gegenspieler, gewinnen wider Erwarten haushoch, und so finden sich Nashe und Pozzi unvermittelt in der Situation wieder, ihre Spielschulden durch die Errichtung einer Mauer aus den zehntauschen abgetragenen Quadern eines alten irischen Schlosses abarbeiten zu müssen - unter annähernd lagerhaftartigen Begleitumständen. Ein Fluchtversuch Pozzis endet damit, dass Nashe ihn zusammengeschlagen vor seiner Wohnwagentür findet. Nashe gibt dem Verwalter Murks und dessen Sohn die Schuld, Pozzi wird abtransportiert, angeblich ins Krankenhaus. Er taucht nicht wieder auf. Nachdem einige Monate später die finanzielle Verpflichtung erlischt, steuert die Geschichte unvermittelt auf ihr zunächst überraschendes, dann aber durchaus als folgerichtig interpretierbares Ende zu. Von Anfang an trägt die Story Züge des Kafkaesken, nichts scheint wirklich real und bis ins Detail nachvollziehbar: die irrwitzigen Marathonfahrten Nashes, seine Vorliebe für Mozart und Haydn, Rousseau und Faulkner, die man bei einem Feuerwehrmann aus Boston nicht unbedingt voraussetzen würde; die kindischen Marotten Flowers und Stones, der eine ein akribischer Sammler historischen Strandguts, bei dem man sich unwillkürlich an Bill Ramseys alten Schlager "Souvenirs, Souvenirs" erinnert fühlt, der andere ein versponnener Künstler, der seit Jahren an dem riesigen Modell einer Stadt arbeitet, die das Gestern und Heute gleichzeitig abbilden will; Murks, der mürrische und humorlose Verwalter des Anwesens von Flower und Stone, dem die Beaufsichtigung von Nashe und Pozzi obliegt und der wie ein willenloser Scherge seiner Auftraggeber wirkt. Pozzi selbst, der ungehobelte, leicht aufbrausende kleine Spieler, scheint hingegen ganz aus dem Leben gegriffen, aus dem übrigen Personal eher durch seine Klischeehaftigkeit herausgehoben zu sein. Dieses Gefühl der Unwirklichkeit, die den Leser durch das ganze Buch begleitet, schafft vielleicht erst die Grundlage dafür, sich auf die Fragestellung einzulassen: wieviel Zufall gibt es im Leben, wieviel Handeln aus Notwendigkeit, wieviele zugelassene Träume? Das Leitmotiv des Spiels und der beständigen Scharade, der unsichere Grund, auf dem sich Nashe und Pozzi zu Beginn des Buches bewegen, werden durch die Einförmigkeit der monatelangen Arbeit des Mauerbaus aufgewogen. Während Pozzi daran zugrundegeht, scheint Nashe zumindest zeitweise sein aus den Fugen geratenes Leben gerade dadurch wieder ins Lot bringen zu können. Doch muss er ebenso wie Pozzi die Ohnmacht gegenüber seiner eigenen Trieb- und Gefühlswelt einerseits und dem Ausgeliefertsein an Fremdbestimmung andererseits konstatieren. Und wieder spielt das Motiv des Zufalls eine Rolle, das auch gleich noch die Rache an Murks und seinem Sohn Floyd für Pozzis Verschwinden mit einschließt: auf einer Autofahrt, bei der Nashe in Begleitung von Murks und Floyd am Steuer sitzt, kommt es zum Unfall. Dass Nashe im Moment des Erkennens der Unvermeidlichkeit des eigenen Todes willentlich beschleunigt, statt zu bremsen und somit die Rätsel des Buches nicht aufgedeckt werden, haben Paul Auster einige Leser sehr verübelt. Sie übersehen dabei, dass "Die Musik des Zufalls" letztendlich von Anfang an genau darauf zusteuert - nur dies, wie eine Kette von Zufällen es eben so an sich hat, nicht geradlinig, sondern hakenschlagend durch die gesamten wechselvollen zweihundertsechsundfünfzig Seiten des Romans.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2010-06-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.