„Nachdem die Zeiten Pygmalions endgültig wiedergekehrt sind“, sagte Antonin Artaud in einem Interview in der Zeitschrift Ciné-Rythme Nr. 3/1933, „wird irgendein Liebhaber, jeder x-beliebige Tourist des Geschmacks, des Tons, des Geruchs und des Gesichtssinns etwas bei sich tragen, in seiner Tasche haben, womit er in seiner Nähe und in jedem Augenblick die Person seiner Träume erscheinen lassen kann.“ Hatte der als Wahnsinniger in die Geschichte eingegangene Schauspieler, Autor und Theaterregisseur gar damals schon das iphone, handy oder ipod vorweggenommen?
Stummfilm versus Tonfilm
Antonin Artauds Karriere fing als Theaterschauspieler an, aber er arbeitete bald auch für den Film, den Stummfilm wohlgemerkt, denn er war einer jener Künstler, die sich vehement und ebenso erfolglos gegen die neue Errungenschaft des Tonfilms zur Wehr setzten und diesen als „bebilderten Tex“ oder „aufgezeichnete Theater“ geißelten. Damals fing die „narzisstische Ära des Medienkonsums“ eigentlich schon an und heute lädt sich ein jeder seine Filme auf die Konsole und konsumiert sie alleine vor der Mattscheibe. Das Gemeinschaftserlebnis ist dahin, Kino ist nur mehr ein Alltagsgegenstand, der konsumiert wird und keine schamanistische Exorzismen mehr bewerkstelligen kann oder zuwege bringt. „Der Tonfilm ist eine Dummheit, eine Absurdität“, klagte Artaud 1929 in einem Brief an Yvonne Allendy und wusste Regisseure wie Eisenstein, Pudowkin oder Alexandrow hinter sich. Gemeinsam mit der russischen Avantgarde, die damals in Paris noch sehr präsent war, forderte Artaud eine kontrpunktische Verwendung des Tons, wenn es überhaupt einen Ton geben sollte. Seiner Ansicht nach musste ein gelungener Film nämlich ganz ohne Sprache oder Dialoge auskommen, denn der Stummfilm erfordere ja gerade eine Aufmerksamkeit, er wolle entziffert werden, ebenso wie komplexere Musik, Literatur oder Kunst.
Die Niedrigkeit der Gemüter
„Seit die Rede auf die Leinwand gehievt wurde, stand nie mehr die kinematographische Poesie zur Debatte. Eine Tür hat sich geschlossen, die sich nie mehr öffnen wird; dass der Tonfilm überall um sich gegriffen hat, belegt nicht, dass er seine Notwendigkeit oder seine Macht demonstriert hätte. Es belegt, dass die generelle Abstumpfung, die allgemeine Niedrigkeit der Gemüter sich nicht mehr mit der Poesie verständigen.“Antonin Artaud sah in der zur kommerziellen Kultur des Tonfilms, die zum Kommerz korrumpiert werde, aber auch eine Chance für eine neue Aufwertung des Theaters. „Das Kino gleicht jenen schreckenerrgenden Masken der alten, indianischen Hexer, die durch Zeit und Abnutzung allmählich jeglicher Wirkung beraubt wurden und von den Hexern selbst nur noch für würdig erachtet werden, in den Vitrinen eines Museums zu verkommen.“
Artauds Texte zum Film
„Texte zum Film“, erschienen im Matthes&Seitz Verlag, versammelt neben Drehbuchentwürfen Artauds auch alle seine Texte zum Film, darunter auch Lobeshymnen auf den deutschen Film, Briefe Artauds an Filmschaffende sowie Interviews und zusätzliche Materialien. Artauds Beschäftigung mit dem Film fällt – wie gesagt - zusammen mit dem Wechsel vom Stummfilm zum Tonfilm, der sich in den Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts vollzog. „Ich bin immer mehr davon überzeugt, dass das Kino die Kunst der Vergangenheit ist und bleiben wird. Man kann darin nicht arbeiten, ohne sich zu schämen.“ Oder besser noch: „Es gibt keinen Grund, dass der Stummfilm nicht eine Sprache, ein Mittel an und für sich darstellt und keine Kunst wäre wie die Literatur, die Malerei, die Musik etc.“
Antonin Artaud
Texte zum Film
Artaud Werke 11
310 Seiten, gebunden
Aus dem Französischen, mit einem Nachwort und Anmerkungen von Bernd Mattheus
ISBN: 978-3-88221-612-7
Preis: 25,00 € / 35,90 CHF
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-03-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.