In seiner Rubrik „Bücher, die übersetzt werden sollten" schrieb Walter Benjamin 1929: „Apollinaire war Dichter, ja Mensch, à propos de tout et de rien. Er hat sich mit so angespanntem Fühlen an den Augenblick verloren und doch, zugleich, so eigenwillig im Vergangenen behagt, dass er viel eher als irgendwelchen Dichtern oder Künstlern den großen anonymen Schöpfern der Pariser Mode vergleichbar ist." Erst achtzig Jahre nach Benjamins Aufforderung, den „Flaneur" zu übersetzen, erscheint er nun zum ersten Mal auf deutsch in einer schön gemachten Edition der Friedenauer Presse.
Die Gärten von Paris
Apollinaire flaniert durch sein geliebtes Paris und beschreibt die Gartenlokale am Wasser oder die Buchhandlung von Monsieur Lehec, der seine Bücher nur an wenige Personen verkaufte, da er nicht alle für ihren Erwerb würdig befand. „Meine Herren im Hause des Gehängten redet man nicht vom Strick, im Hause des Übersetzers nicht vom Verräter“, heißt es in dem kurzen Essay über Lehec, bei dem vielleicht auch Anatole France sein Exemplar Virgilius Nauticus erworben hatte oder die nautischen Fachbegriffe in langen Diskussionen erörtert werden. Ein Celeusma etwa, ein Ruf der den Ruderern des Bucintoro, des goldenen Schiffes des venezianischen Dogen, galt wird mit einem „Ah! Ah! Ah!“ umschrieben. Aber auch ein Orgasmus könnte ähnlich klingen, zumindest wird das bei Lehec so erörtert, neben vielen weiteren gebildeten Konversationen, die dort stattfinden.
Spaziergang an beiden Ufern der Seine
Über weite Passagen werden auch französische Gedichte zitiert, etwa in „Weihnachtslieder in der Rue de Buci“, in der es viele Eindrücke zu gewinnen gibt, besonders aber das Singen von Weihnachtsliedern, ein paar Jahre vor dem Krieg. Das Begräbnis von Oscar Wilde (sein Grabdenkmal ist heute noch von tausenden Lippenstiftküssen übersät) wird von Ernest La Jeunesse geschildert und sein Rebus aufschlüssig entschlüsselt, aber nicht jedes Bilderrätsel ist so schön wie Paris im Fin de Siècle. „Vom Herumlaufen in fremden Städten wurde ich oft sehr müde, und um mich auszuruhen, um mich zu Hause zu fühlen, ging ich in eine Bibliothek“, auch den kranken Peter Altenberg schätzt der Franzose, oder Karl Kraus, den er einen „exzellenten Prosaisten“ nennt. Ein paar Straßen weiter beschreibt Apollinaire das Kloster in der Rue de Douai, die Garküche Michel Pons oder ein unbekanntes Napoleon-Museum. Der Originaltitel „Le Flaneur de deux rives“ spielt auf die Einteilung von Paris in rive gauche und rive droite an.
Guillaume Apollinaire
Flaneur in Paris
Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Gernot Krämer.
Originaltitel „Le Flaneur de deux rives“.
80 S. / 12,0 x 18,0 cm
ISBN 978-3-932109-66-9
2011
16,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2016-08-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.