„Sempre neve, case di legno, gran ignoranza, ma denari assai“ zitiert Goethe beim Anblick Neapels ein in der dortigen Bevölkerung weit verbreitetes Vorurteil gegen die Bewohner der Länder aus dem Norden. Immer Nebel soll es dort haben, die Häuser seien aus Holz, es herrsche große Ignoranz, aber Geld, Geld hätten sie bis genug. Auf Neapel trifft tatsächlich genau das Gegenteil zu, das war wohl schon zu Goethe’s Zeiten der Fall. Dort scheint tatsächlich immer die Sonne und die Menschen haben ein sonniges Gemüt, lachen und tanzen und denken nicht an morgen. „Der Neapolitaner glaubt im Besitze des Paradieses zu sein“, schreibt Goethe und vielleicht war das im 18./19. Jahrhundert tatsächlich noch so, denn heute gehört es mehr oder weniger den Touristen.
Wein, Weib und Gesang?
„Wer nicht liebt Wein, Weib und Gesang, der bleibt ein Narr ein Leben lang“, steht auf Deutsch über einem Torbogen einer Hotelkneipe in Capri, Konterfeis und Bacchanten sind auf die Mauer gezeichnet und ein mit Wein gedeckter Tisch erwartet die Festgesellschaft. Die „cantina degli artisti des Hotels Pagano auf Capri empfing schon damals als das Foto entstand, um 1900, gerne zahlende Gäste aus dem Ausland. Denn auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte eine Reise in den Süden zum bildungsbürgerlichen Repertoire eines aufgeklärten Weltenbürgers. In dem in Seide gebundenen großformatigen Prachtband (XL-Format) werden nicht nur geradezu spektakuläre frühe Italienfotografien aus dem vorletzten Jahrhundert gezeigt, sondern auch Auszüge aus Goethes „Italienischer Reise“ zitiert. In Rom findet sich zum Beispiel folgende Eintragung: „Nach zerstreuenden mitunter peinlich zugebrachten Tagen (…)“. Was Goethe wohl mit „peinlich“ meinte? Frönte er etwa dem Sprichwort von Capri?
Goehte’s Reise in rollender Wohnung
„Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n, im dunkeln Laub die Goldorangen glühn“, ein weiteres bekanntes Zitat zur Beschreibung unseres südlichen Nachbarlandes erzählt auch von den Imaginationen der Reisenden, die den Süden als Gegenentwurf zu ihrem eigenen Land, als Utopie gewissermaßen entwarfen, um genau das zu kritisieren, was ihnen in ihrer Heimat am meisten mangelte: Leichtigkeit, sonnige Gemüter und alte Kultur. Eine Reise nach Italien, die „Gran Tour“, galt im 17. und 18. Jahrhundert als unverzichtbarer Bestandteil der Erziehung junger Männer aus gutem Hause. Allerdings musste Italien damals mit der Kutsche bereist werden, die Pferde führten die „enge rollende Wohnung“, wie Goethe die Kutsche liebevoll nennt, nach Venedig, Bologna, Florenz, Rom und Neapel. 1786 bis 1788 war Johann Wolfgang von Goethe auf den Spuren seines Vaters auf seiner eigenen italienischen Reise. Die meisten Fotografien stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, also nur siebzig Jahre später. Wer Italien kennt, weiß, dass sich in dieser „kurzen“ Zeit nur wenig verändert. Carlo Naya (1816–1882) oder dem, wie Goethe, aus Frankfurt am Main stammenden Giorgio Sommer (1834–1914) gelangen ungemein poetische Ansichten von Markusplatz, Kolosseum, Rauch spuckendem Vesuv und schönen Fischerinnen auf Capri, teilweise koloriert. Viele Fotografien stammen aber auch von unbekannten Künstlern. Die genauen Motive sind hinten im Band nochmals beschriftet, damit man die Orte der Sehnsucht auch selbst auffinden kann.
Grand Tour
Mit Goethe durch das alte Italien
Einführung von Andrea Amerio, Fotografien von Giacomo Brogi, Carlo Naya, Giorgio Sommer, A. Tagliarini, T. Tagliarini u.a., Gestaltung von Maurizio Bartomioli
Deutsch/Englisch
2013. 144 Seiten, 64 Abb.
33,00 x 48,00 cm
in Seide gebunden
Lieferbar
ISBN 978-3-7757-3618-3
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-06-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.