Als ihre Eltern kurz hintereinander sterben und sie in deren verwaisten Gießener Wohnung die Hinterlassenschaft eines ganzen Lebens ordnen muss, da, so nehme ich an, ist in der Schauspielerin Adriana Altaras der Entschluss gereift, das Leben und die Lebensgeschichte ihrer Eltern, deren Bedeutung für ihr eigenes Leben sie bisher nur ausschnittweise begriff, aufzuschreiben.
Eingebettet in ihren Lebensalltag mit einem nichtjüdischen Mann, der schon lange viel Verständnis aufbringt für all die Neurosen der Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, ihren Kindern, vielen Freunden und ihrem Beruf als Schauspielerin und Regisseurin erzählt sie das Leben ihrer Eltern.
Das Sichten der Hinterlassenschaften ihrer Eltern in einer Wohnung, in der vierzig Jahre lang jede Kleinigkeit aufgehoben wurde, vergegenwärtigt Adriana Altaras nicht nur das bewegte Leben des Vaters und der Mutter, sondern konfrontiert die deutsche Jüdin auch mit ihrem eigenen Jüdischsein und einer Zeit in der es lebensgefährlich war, ein Jude zu sein.
Wie sie diese Geschichte und die damit verbundenen zahllosen Geschichten erzählt, mit Witz und einem bewundernswerten Humor, wie sie ihre eigene jüdische Identität in Deutschland reflektiert, ohne sie permanent vor sich her zu tragen, das ist als Lektüre unterhaltsam. Ich habe viele Bücher von Autorinnen gelesen, die als Kinder von Überlebenden schreibend versuchten, etwas zu bewältigen von der unendlichen Trauer und Last, die die Eltern ihnen quasi vererbten, vor allem dadurch, dass sie schwiegen. Keines aber hat mich so fasziniert, stellenweise begeistert wie diese "Geschichte meiner strapaziösen Familie".
Da ist der imponierende Vater Jakob, geboren 1918 in Split, der als Medizinstudent in Italien das Dritte Reich überlebte, wobei er den Mut hatte, 40 jüdische Kinder aus Kroatien vor dem Transport in ein Vernichtungslager zu retten. Allein die Geschichte dieses Mannes der Nachwelt zu erhalten, ist das Buch wert gewesen. Nach dem Krieg in der jugoslawischen Parteihierarchie sehr weit aufgestiegen, fiel er 1964 in Ungnade und wurde als Jude aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen. Über Zürich floh er nach Deutschland, wo er als Arzt, und später als Professor für Radiologie an der Universität eine Lebensstellung erhielt, wo er später ein Verfahren zur Erkennung von Dickdarmerkrankungen entwickelte, das noch heute angewendet wird. In Gießen gründete er eine jüdische Gemeinde und schaffte es, dass sie Synagoge wieder aufgebaut wurde. Sein Traum war es, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland zu werden, und dort mit den Zuständen, die er immer wieder kritisierte, aufzuräumen.
In seiner zweiten Ehe war er mit Thea Altaras verheiratet, einer Architektin, die für ihre Forschungen und Veröffentlichungen zur jüdischen Architektur in Hessen bekannt wurde. Als Tochter dieses rührigen und unruhigen Paares ist Adriana Altaras aufgewachsen. Doch vieles war auch ihr unbekannt, bis sie nach dem Tod der den Vater um kurze Zeit nur überlebenden Mutter die Giessener Wohnung auflösen muss. Die Fotos vor allem sind es, die sie zurückführen in eine Vergangenheit, die heute noch schmerzt:
"Ich weiß genau, warum ich keine alten Fotos mag. Geschichten, die nicht einmal im Traum zu verdauen sind."
Doch sie stellt sich dieser Aufgabe und schreibt alles auf, was sie dabei erlebt. Herausgekommen sind Beobachtungen von inneren und tatsächlichen Reisen durch die Gegenwart und die Vergangenheit, Selbstvergewisserungen einer Jüdin in Deutschland, die die Qualität großer Literatur haben. Denn ihre Sprach- und Erzählkunst ist enorm, der Bogen der Geschichten weit gespannt. Es gelingt ihr, nicht nur in den innerjüdischen Auseinandersetzungen in Deutschland nicht nur zwischen den Zeilen Duftmarken zu setzen, sondern auch dem nichtjüdischen Leser zu vermitteln, wie eine Frau mit dieser Familiengeschichte im Rücken in Deutschland lebt und arbeitet, gerne und bewusst, wie sie immer wieder betont.
Ein Buch, das auf warmherzige Weise dem Leser etwas vermittelt von der Geschichte einer jüdischen Familie in Deutschland.
Ihr neues Buch „doitscha“ ist von Kiepenheuer und Witsch gerade angekündigt und erscheint am 6. November 2014. Es verspricht ähnlich anspruchsvollen Lesegenuss.
Adriana Altaras, Titos Brille, Fischer Taschenbuch Verlag 2012, ISBN 978-3-596-19304-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-08-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.